Rafael Kubelik
Mit seinem offenherzigen Gesicht, seinem zerzausten weißen Haar und den hellen Augen strahlte Rafael Kubelík große Klugheit aus. Sein intensiver Blick schien den Geheimnissen der Welt auf den Grund gehen zu wollen. Er war der Sohn von Jan Kubelík, einem großen Geigenvirtuosen zu Beginn des letzten Jahrhunderts, und einer ungarischen Adligen und wuchs in einem wohlhabenden Milieu auf, umgeben von Kunst und Musik. Er hatte einen ausgesprochen integren Charakter und ging keine Kompromisse ein. Als überzeugter Patriot verweigerte er einem Vertreter des Dritten Reichs bei einem Konzert in Prag den Hitlergruß. Später verließ er die Heimat, als die Kommunisten dort die Macht übernahmen. Er beherrschte bereits zu Beginn seiner Karriere als Gastdirigent ein sehr weitgefasstes Repertoire.
1950 wurde er zum Dirigenten des Chicago Symphony Orchestra ernannt, wo er innerhalb von drei Spielzeiten 70 neue Werke dirigierte – nicht gerade nach dem Geschmack der konservativen Mäzene, die ihm schon bald wieder kündigten. Anschließend dirigierte er zwei Spielzeiten in Covent Garden, und führte insbesondere eine quasi komplette Fassung der Oper Die Trojaner von Berlioz auf, die damals noch weitgehend unbekannt war. 1954 hatte er mit einer Produktion von Katia Kabanova (von Janacek) im Sadler’s Wells riesigen Erfolg. Kurz darauf verließ er wegen einer von Sir Thomas Beecham inszenierten Kampagne gegen das Engagement ausländischer Künstler die Stadt London.
Die 18 Jahre von 1961 bis 1979, während derer Rafael Kubelík an der Spitze des Sinfonieorchesters des Bayerischen Rundfunks stand, bildeten den Höhepunkt seiner Karriere. Während dieser Zeit konnte er sich frei entfalten und hinterließ im Gedächtnis der Musikliebhaber Erinnerungen an wunderbare Konzerte. Er war ein genialer Interpret von Bruckner und vor allem von Mahler, dessen Werke er in einer epochalen Gesamtaufnahme eingespielt hat. Nach eigenen Aussagen habe Daniel Barenboïm beim Anhören dieser Aufnahmen alles gefunden, was ihm für seine eigenen Interpretationen fehlte.
Die Komponisten seines Heimatlandes, Smetana (fünf Fassungen des Zyklus meine Heimat), Dvořák, Janáček und Martinů fanden in Rafael Kubelík einen ihrer besten Botschafter. Eine schmerzhafte Arthritis bedeutete schließlich das Ende seiner Dirigententätigkeit. 1990 nahm er jedoch das Angebot, anlässlich der Wiedereröffnung des von ihm mitbegründeten Prager Frühlings das Dirigentenpult seiner geliebten Prager Philharmoniker wieder zu betreten, an. Von diesem Wiedersehen tief gerührt dirigierte er die Prager Sinfonie von Mozart und die Sinfonie Aus der Neuen Welt von Dvořák. Während der Proben machte er seiner großen Freude Luft, indem er den Musikern sagte, kein anderes Orchester der Welt könne diese Musik so spielen wie sie.
Dank seiner klaren, dynamischen und ausdrucksstarken Führung hat Rafael Kubelík eine bedeutende Diskografie auf einem derart hohen Niveau hinterlassen, dass es an der Zeit wäre, sich diese wieder in Erinnerung zu rufen. Einige der Einspielungen sind heute noch eine absolute Referenz, wie etwa der traumhafte Rigoletto, der an der Mailänder Skala mit Dietrich Fischer-Dieskau, Renata Scotto, Carlo Bergonzi und Fiorenza Cossotto aufgenommen wurde. Kubelíks Mahler-Gesamtaufnahme hat auch heute noch große Fans. 2002 brachte eine Veröffentlichung aus den Archiven des Bayerischen Rundfunks ein überragendes Lied von der Erde mit Janet Baker und Waldemar Kmentt zutage, das sofort den Spitzenplatz einer bereits überumfangreichen Diskografie belegte.
François Hudry/ Oktober 2017
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