Charlie Mariano
"Die meisten Musiker in Amerika wissen gar nicht, was ich heute mache. Sie kennen mich von den 50er- und 60er-Jahren. In Europa ist es genau umgekehrt. Hier weiß man, womit ich mich in den letzten 30 Jahren beschäftigt habe, aber kaum etwas von der Zeit davor." (Charlie Mariano)
Es gibt Musiker, da macht eine Diskografie einfach keinen Sinn, weil ihr Schaffen so umfangreich ist, dass man schnell den Überblick verliert. Charlie Mariano ist mit über 300 Veröffentlichungen, auf denen sein Name zu finden ist, so ein Mann. Bevor der Saxophonist am 16. Juni 2009 in seiner Wahlheimat Köln einem Krebsleiden erliegt, redet er in der internationalen Jazzwelt ein gewichtiges Wörtchen mit. Zur Welt kommt Carmine Ugo Mariano 86 Jahre früher im amerikanischen Boston. Um genau zu sein, am 12. November 1923.
Das Kind italienischer Einwanderer wächst in einem musikalischen Haushalt auf und entdeckt seine Liebe zur Musik schon früh. 1938, der Swing befindet sich gerade in seiner Hochphase, himmelt Mariano den Saxophonisten Lester Young an und beschließt, es ihm gleich zu tun. Seine zehn Jahre ältere Schwester drangsaliert er so lange, bis sie schließlich bereit ist, ihm ein Saxophon zu kaufen.
Seine Karriere nimmt ihren Lauf in einem Amerika, das in den 40er Jahren noch stark von der Rassentrennung geprägt ist. Charles Hugo Mariano, wie er sich inzwischen nennt, macht mit diesem unrühmlichen Kapitel amerikanischer Geschichte vor allem mit seinen musikalischen Weggefährten, u.a. Charles Mingus, schlechte Erfahrungen. "In dieser Zeit wurde Mariano mit dem verbreiteten Rassismus konfrontiert, der auch vor der Jazzmusik keinen Halt machte. Charles Mingus kommentierte diese Absurdität: 'Musik hat keine Farbe'."
Doch die 40er halten nicht nur politische und gesellschaftliche Unruhen bereit, sie bringen auch für die Entwicklung des Jazz bedeutende Musiker hervor. Einer von ihnen: Charlie Parker. Seinem Spiel verfällt Mariano immer mehr, doch der zum Scheitern verurteilte Versuch, in Parkers Fußstapfen zu treten, entpuppt sich als entscheidender Wendepunkt. "Nie zuvor hatten wir jemanden gehört, der so schnell spielte und so leidenschaftlich. Doch mir wurde bald klar, dass ich nie wie Parker klingen würde und deshalb etwas anderes versuchen musste", erinnert sich Mariano im Interview. Die Konsequenz: Er erkennt, dass es keinen Sinn macht, anderen nachzueifern und beginnt an seinem persönlichen Sound, seinem individuellen Ausdruck und seinem unverkennbaren Stil zu feilen.
Mit Erfolg. 60 Jahre später schaut er auf über 300 Veröffentlichungen und eine großartige Karriere zurück, die geprägt ist vom ganz speziellen Mariano-Sound. Seine musikalischen Partner tragen Namen wie Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Stan Kenton und McCoy Tyner. Hierzulande kennt man ihn von Embryo, den Dissidenten, Pork Pie und dem United Jazz and Rock Ensemble. Herbert Grönemeyer, Astrud Gilberto und Konstantin Wecker tauchen in seiner Discographie ebenso auf, wie die Rabih Abou-Khalil, Jasper van't Hof, Dino Saluzzi und der Freiburger Bassist Dieter Ilg, an dessen Seite Mariano sich bis zuletzt zeigt. "Er ist Freund, Lehrer und Förderer unzähliger Musiker auf der Welt", beschreibt Ilg seinen Freund und Kollegen.
Marianos Karriere ist geprägt von Stationen, die den Musiker rund um den Globus führen und zu einem der ersten Weltmusiker machen. "Charlie Mariano spielte Weltmusik, bevor es den Begriff überhaupt gab", heißt es zurecht über den kulturinteressierten Freigeist. Neben seinem Herkunftsland Amerika sind Asien und Indien jeweils mehrjährige Stationen, die sein musikalisches Verständnis prägen, bevor er sich in 1970ern aufmacht, auch das europäische Musikbegreifen zu verinnerlichen. Zunächst in den Niederlanden beheimatet, lebt Mariano seit Mitte der Achtziger bis zu seinem Tod in seiner Wahlheimat Köln, dessen kulturelle Vielfalt er besonders schätzt.
Sein spezieller Ton, auf den immer wieder verwiesen wird, "ist unverwechselbar und mit Worten kaum zu beschreiben. Charles Mingus charakterisierte ihn mit 'Tears of Sounds' und kam ihm damit auf poetische Weise sehr nahe."
© Laut
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