I Inside the Old Year Dying

Albumbeschreibung

Wir dachten schon, sie hätte uns vergessen. Das letzte Studioalbum von PJ Harvey stammt aus dem Jahr 2016 (The Hope Six Demolition Project), gefolgt von einigen Songs für Serien und Filme und einem Gedichtband mit dem Titel Orlam aus dem letzten Jahr. Bei der Komposition ihres lang ersehnten neuen Albums stützte sich die Engländerin auf Texte aus dem letztgenannten Werk. Beim ersten Song, Prayer at the Gate, könnte man meinen, sie habe sich von ihrem ehemaligen Lebensgefährten und Kollegen Nick Cave inspirieren lassen: dieses langsame Tempo, diese aufs Wesentliche reduzierte Musik - all das klingt nach Nick Cave und seinem Push the Sky Away. Bei einigen Songs scheint die Engländerin eine fremde Stimme anzunehmen, die höher, feiner und schärfer klingt als das, was man von ihr kennt, die aber genauso fesselnd ist. Schon allein durch ihre Stimme beantwortet PJ Harvey die Fragen, die sie zweifellos von Anfang an (vor mehr als dreißig Jahren) beschäftigten: Wie kann man als Künstler:in bestehen, ohne sich zu wiederholen? Wie kann man sich erneuern, ohne sich selbst zu verleugnen? Auf diesem zehnten Album wird sie von Flood und John Parish begleitet, den treuen Produzenten und Mitstreitern von Harveys Anfängen. I Inside the Old Year Dying ist jedoch keine Rückkehr zum wütenden und brutalen Rock ihrer ersten Alben. Musikalisch setzt sie hier auf die Karte der Reinheit: eher langsame Stücke mit dünner Instrumentierung, intensiv zurückhaltend und minimalistisch, wobei die Stimme immer im Vordergrund steht, eine gute Balance zwischen Akustik und Produktionseffekten, zwischen Folk und Elektro, Natur und Zukunft. Und immer wieder treten scheinbare Paradoxe an die Oberfläche. Manchmal klingt sie fast wie eine Disco-Queen, die sich in der Hütte eines Druiden tief im Wald verschanzt hat. Man glaubt, sich im dunklen Labyrinth der Arrangements zu verlieren, wenn man blind der entschlossenen Stimme der Sängerin folgt. Selbst in der Schwerelosigkeit und mit elektronischen Effekten sind PJ Harveys Kompositionen immer noch die Songs, die man allein zur Akustikgitarre am Kamin spielen und singen mag. Auch wenn man sich dabei verbrennt, neue Welten in den Flammen aufkommen sieht und sie einfach nur liebt! © Stéphane Deschamps/Qobuz