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Wäre es den Berliner Philharmonikern bei ihrer Wahl in diesem Jahr darum gegangen, einen Chefdirigenten zu finden, der fest mit beiden Beinen im Repertoire des 19. und 20. Jahrhundert verankert ist und dazu neugierig die Besenkammern, Dachböden und Kartoffelkeller der Musikgeschichte nach dort abgelegten Werken durchstöbert, dann hätte Paavo Järvi in die engste Wahl gehört. Ein Musiker im Jünglingsalter, was seine Profession betrifft (am 30. Dezember begeht er seinen 53. Geburtstag), doch ein Großmeister nach seiner fleißig erarbeiteten Werkliste von D wie Henri Dutilleux bis R wie Hans Rott, was allein das Sinfonische umfasst. Dazu ist Järvi einer, der den zyklischen Kanon nicht scheut, der sich dem übermächtigen diskographischen Vergleich stellt, seien es die Sinfonien von Ludwig van Beethoven und Robert Schumann, die er mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen eingespielt hat, oder die von Gustav Mahler, die er mit dem hr-Sinfonieorchester erarbeitet hat. In Frankfurt war er Chefdirigent von 2006 bis 2013.
Der aus Estland stammende, in den USA sozialisierte Dirigent Paavo Järvi ist der positiv-strenge Rationalist unserer Tage, ein Dirigent von wohltuend klarer, gliedernder Schlagtechnik („altmodisch“ also wie Riccardo Chailly und Hartmut Haenchen etwa), der in die Struktur leuchtet, statt ein hampelndes Fuchtel-Feuer an den schönen Stellen – gemeint sind die lauten – zu entfachen. So geht es ihm um das vom Komponisten Gemeinte, nicht um das, was man so freihändig in die Partituren hininszenieren könnte.
Nachdem bisher die Nummern fünf, sieben und neun herausgekommen sind, hat Järvi jetzt den Zyklus mit den Sinfonien von Anton Bruckner fortgesetzt, Dokumentationen von Live-Aufnahmen mit dem hr-Sinfonieorchester in der Alten Oper Frankfurt. Grundsätzlich gilt: Wie bei Günter Wand sind die Grundtempi der Sätze als Glieder eines durchgehenden Pulses verbunden. Doch stärker als der rheinische Bruckner-Guru betont Järvi die Reste eines autochthonen musikalischen Bodens, ohne je völkisch Blut beizumischen. Die Nähe der Welt Gustav Mahlers ist spürbar in den Ländler-Partien der Vierten etwa, produziert 2009. Spannend ist das Nebeneinander von Eleganz der Phrasierung und körnigem klanglichem Gewand, wenn in der Durchführung dieser Sinfonie (Nowak-Ausgabe der Revision 1878/80) das Blech vor der Reprise letztmals sich in den Choral einfindet, ein wenig rau, doch sprechend und prägnant, plastisch in den Motiv-Gestalten. Großartig auch die Steigerungs-Verdichtung im Andante.
Während ein Simon Rattle hier wie verzweifelt auf der Suche nach einem spirituellen Geheimnis wirkt, zeichnet Järvi schlicht die Kalligraphie eines verqueren, nicht immer verständlich und logisch wirkenden, doch genialen Werks nach, dem Züge des Archaischen eingeschrieben sind, man höre nur den Beginn des Finales der Vierten. Ein Einwand? Ja, die Schlusskadenz wirkt verrutscht, nicht final, der letzte Akkord nicht wie ein Schlussstein.
Bei der sechsten Sinfonie, eine Aufnahme vom Mai 2010, fällt ebenfalls das Raue auf; im Kopfsatz scheint beinahe hie und da der Tonfall eines Leoš Janáček aufzuglimmen. Dass der Komponist das A-Dur-Werk „keck“ nannte, versteht jeder, der Järvis übermütiges Scherzo gehört hat, das eine Idee rascher genommen ist, als Bruckners „Nicht schnell“ indiziert. Auch das „Sehr feierlich“ des Adagios unterläuft Järvi mit einem belebteren Tempo – nicht zum Schaden des Satzes. Mit unglaublicher Energie wird das Finale angegangen, fasziniert hört man im ersten Seitengedanken die kontrapunktische Härte der gegeneinander gesetzten Linien. Tadellos in allen Gruppen agiert das engagierte hr-Sinfonieorchester – das ist ein Bruckner des 21. Jahrhunderts.
© Thieme, Götz / www.fonoforum.de
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Symphony No. 4 in E-flat Major WAB 104 "Romantic" (Anton Bruckner)
Albumbeschreibung
Wäre es den Berliner Philharmonikern bei ihrer Wahl in diesem Jahr darum gegangen, einen Chefdirigenten zu finden, der fest mit beiden Beinen im Repertoire des 19. und 20. Jahrhundert verankert ist und dazu neugierig die Besenkammern, Dachböden und Kartoffelkeller der Musikgeschichte nach dort abgelegten Werken durchstöbert, dann hätte Paavo Järvi in die engste Wahl gehört. Ein Musiker im Jünglingsalter, was seine Profession betrifft (am 30. Dezember begeht er seinen 53. Geburtstag), doch ein Großmeister nach seiner fleißig erarbeiteten Werkliste von D wie Henri Dutilleux bis R wie Hans Rott, was allein das Sinfonische umfasst. Dazu ist Järvi einer, der den zyklischen Kanon nicht scheut, der sich dem übermächtigen diskographischen Vergleich stellt, seien es die Sinfonien von Ludwig van Beethoven und Robert Schumann, die er mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen eingespielt hat, oder die von Gustav Mahler, die er mit dem hr-Sinfonieorchester erarbeitet hat. In Frankfurt war er Chefdirigent von 2006 bis 2013.
Der aus Estland stammende, in den USA sozialisierte Dirigent Paavo Järvi ist der positiv-strenge Rationalist unserer Tage, ein Dirigent von wohltuend klarer, gliedernder Schlagtechnik („altmodisch“ also wie Riccardo Chailly und Hartmut Haenchen etwa), der in die Struktur leuchtet, statt ein hampelndes Fuchtel-Feuer an den schönen Stellen – gemeint sind die lauten – zu entfachen. So geht es ihm um das vom Komponisten Gemeinte, nicht um das, was man so freihändig in die Partituren hininszenieren könnte.
Nachdem bisher die Nummern fünf, sieben und neun herausgekommen sind, hat Järvi jetzt den Zyklus mit den Sinfonien von Anton Bruckner fortgesetzt, Dokumentationen von Live-Aufnahmen mit dem hr-Sinfonieorchester in der Alten Oper Frankfurt. Grundsätzlich gilt: Wie bei Günter Wand sind die Grundtempi der Sätze als Glieder eines durchgehenden Pulses verbunden. Doch stärker als der rheinische Bruckner-Guru betont Järvi die Reste eines autochthonen musikalischen Bodens, ohne je völkisch Blut beizumischen. Die Nähe der Welt Gustav Mahlers ist spürbar in den Ländler-Partien der Vierten etwa, produziert 2009. Spannend ist das Nebeneinander von Eleganz der Phrasierung und körnigem klanglichem Gewand, wenn in der Durchführung dieser Sinfonie (Nowak-Ausgabe der Revision 1878/80) das Blech vor der Reprise letztmals sich in den Choral einfindet, ein wenig rau, doch sprechend und prägnant, plastisch in den Motiv-Gestalten. Großartig auch die Steigerungs-Verdichtung im Andante.
Während ein Simon Rattle hier wie verzweifelt auf der Suche nach einem spirituellen Geheimnis wirkt, zeichnet Järvi schlicht die Kalligraphie eines verqueren, nicht immer verständlich und logisch wirkenden, doch genialen Werks nach, dem Züge des Archaischen eingeschrieben sind, man höre nur den Beginn des Finales der Vierten. Ein Einwand? Ja, die Schlusskadenz wirkt verrutscht, nicht final, der letzte Akkord nicht wie ein Schlussstein.
Bei der sechsten Sinfonie, eine Aufnahme vom Mai 2010, fällt ebenfalls das Raue auf; im Kopfsatz scheint beinahe hie und da der Tonfall eines Leoš Janáček aufzuglimmen. Dass der Komponist das A-Dur-Werk „keck“ nannte, versteht jeder, der Järvis übermütiges Scherzo gehört hat, das eine Idee rascher genommen ist, als Bruckners „Nicht schnell“ indiziert. Auch das „Sehr feierlich“ des Adagios unterläuft Järvi mit einem belebteren Tempo – nicht zum Schaden des Satzes. Mit unglaublicher Energie wird das Finale angegangen, fasziniert hört man im ersten Seitengedanken die kontrapunktische Härte der gegeneinander gesetzten Linien. Tadellos in allen Gruppen agiert das engagierte hr-Sinfonieorchester – das ist ein Bruckner des 21. Jahrhunderts.
© Thieme, Götz / www.fonoforum.de
Informationen zu dem Album
- 1 Disc(s) - 4 Track(s)
- Gesamte Laufzeit: 01:02:55
- Künstler: Paavo Järvi Frankfurt Radio Symphony Orchestra
- Komponist: Anton Bruckner
- Label: Sony Music Labels Inc.
- Genre: Klassik
(P)2013 Frankfurt Radio Symphony Orchestra Under lisence to Sony Music Japan International Inc.
Auszeichnungen:
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