Orishas
Orishas stellen die Antwort auf eine Frage, die in den Meeting-Räumen aller großen Plattenfirmen nach dem enormen Erfolg des "Buena Vista Social Club" heiß diskutiert wurde: "Wie können wir daraus Kapital schlagen"?
Das Label EMI wird in Paris fündig, wo sich der bekannte Hip Hop-Produzent DJ Niko und der seit Mitte der neunziger Jahre in Frankreich lebende kubanische Rapper Livan "Flaco Pro" zusammengetan haben. Ihre Idee, Elemente der kubanischen Folklore mit Rap zu verbinden, stößt auf offene Ohren, sowohl bei den Labels als auch in der kubanischen Szene.
Dort gilt Hip Hop noch eher als Untergrundbewegung, von den Behörden skeptisch als "filoamerikanisch" oder gar reaktionär abgestempelt und von der Musikwelt kaum wahrgenommen - weshalb Livan sich für das künstlerische Exil entschied.
Yotuel "Guerrero" Manzanares und Hiram "Ruzzo" Riveri sind, wie Livan, kubanische Rapper der ersten Stunde. Als Mitglieder von Amanza, der berühmtesten Hip Hop-Band der Karibikinsel, scheinen sie geradezu prädestiniert, ein Teil des Projektes zu werden. Zusätzlich, wohl um für den richtigen Flair zu sorgen, wird Roldan Rivero verpflichtet, ein junger Son-Sänger und -Gitarrist.
In einem Pariser Studio entsteht die Platte, die 1999 in Frankreich und Spanien mit dem Titel "A Lo Cubano" erschien. Orishas nennen sich die Musiker - nach den Göttern der Santeria, der verbreitesten Religion auf Kuba, die aus Elementen afrikanischer Kulten und des Katholizismus besteht.
Mit 25.000 verkauften Exemplaren schwingt sich "A Lo Cubano" in Spanien zur meist verkauften Hip Hop-CD in spanischer Sprache auf, ein Erfolg, der aus den Musikern Stars macht und ihnen den Weg zur Veröffentlichung in anderen Ländern öffnet. Darunter Deutschland, wo sie im Sommer 2000 auf zahlreichen Open Air Festivals erscheinen.
Den Erfolg der Orishas allein auf ein Marketingkonzept zurückzuführen, wäre allerdings falsch. Tatsächlich präsentieren sie Elemente der Tradition - darunter viele Melodien, die aus dem Soundtrack zu "Buena Vista Social Club" bekannt sind - neu und ansprechend. Besonders bestechend geraten dabei die Percussions, die an religiöse Zeremonien erinnern; warm und voll, zugleich etwas unheimlich, bilden sie einen gelungenen Gegenpunkt zum Gesang Roldans und zum Gesprochenen der Rapper.
Wie auch in Wim Wenders Film sucht man bei Orishas vergeblich nach offen politischen Inhalten. Ihre Texte sind nach eigener Aussage der Realität Kubas verbunden und beschäftigen sich mit Themen wie Freundschaft, Nachbarschaft, Familie oder Problemen des täglichen Überlebens. Ihre amerikanischen Vorbilder sind Run DMC und Public Enemy - mit Gangsta-Rap und den allroundfeindlichen Texten können sie dagegen nur wenig anfangen.
2005 erschließen die Orishas mit "El Kilo" neue Wege. Ihr Sound klingt deutlich ruhiger und traditioneller als auf den vorigen Werken. Das tut ihrem Gesamtbild auch gut, kein hektischer Stakkato-Sprechgesang und keine unpassenden Ego-Gesten verfälschen die Begeisterung, die das Trio – zumindest musikalisch – für sein Heimatland hegt.
Diese Begeisterung klingt auch in "Antidiotico" von 2007 wieder an: Das Best Of-Album enthält neben kritischeren Tönen auch eine Liebeserklärung an ihre Heimatstadt Havanna und einen Song, auf dem die Stimme von Fidel Castro bei seiner legendären Abschiedsrede für Che Guevara zu hören ist. Neben den Hits aus drei Longplayern finden zwei neue Tracks sowie das bisher unveröffentlichte "Silencio" aus dem Jahr 1999 Platz.
Ende Mai 2008 präsentiert das Trio pünktlich zum anrollenden Sommer und dem zehnjährigen Bandjubiläum den nächsten Wurf. "Cosita Buena" bewahrt dreizehn neue Songs lang den typischen Orishas-Groove. Wenn Rapper den Buena Vista Social Club besuchen, werden die Bässe aufgedreht, und es darf gescratcht werden. Stellenweise gleitet "Cosita Buena" jedoch kräftig in Richtung Pop ab.
Im Dezember 2009 gibt die Band ihre Auflösung bekannt; die Auszeit dauert bis 2016. Nach einigen Konzerten im Jahr 2017 gehen Orishas Anfang 2020 auf eine größere Tour, die sie auch nach Deutschland führt.
© Laut
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