Anthony Brown
Ein Abend im Jahr 1998: Auf dem Feld der Marchand Grounds, einem kleinen Fußballstadion in einem herunter gekommenen Bezirk der Stadt Castries auf der Karibikinsel St. Lucia, brennt buchstäblich die Luft. Viele Besucher funktionieren Haarspraydosen in Flammenwerfer um, die immer wieder den dunklen Abendhimmel erleuchten.
Süßlicher Duft strömt umher, unbekannte Menschen bieten den Umstehenden immer wieder Züge aus ziemlich großen Zigaretten an. Anthony B. betritt in dem für ihn und den von ihm gewählten Zweig des Rasta-Kults typischen weißen Gewand mit ebenso strahlend weißem Turban die Bühne. Die ersten Töne erklingen, die Menge rastet aus. Flammen schießen empor, Menschen springen in die Luft und formen mit ihren Händen Pistolen.
Das ist Reggae Ende der Neunziger. Anthony B. erreicht bereits jetzt einen Höhepunkt des Erfolges, obwohl er noch am Anfang seiner Karriere steht. Zusammen mit Miguel Collins aka Sizzla Kalongi und Buju Banton bildet er die Speerspitze des rootsorientierten Conscious Reggae, der in seinen Aussagen den Weg zurück zu den Rootstracks von Bob Marley sucht. Afrika gilt als spirituelle Heimat.
Die ganze Karibik singt Anthony B.s Songs, "Raid Di Barn" und "Cold Feet" dröhnen aus den Minibussen, die für den öffentlichen Nahverkehr zuständig sind, an den Straßenecken floriert der Handel mit seinen Tapes. Klar, "Universal Struggle" muss drauf sein, "So Many Things" ist Pflicht, "Nah Vote Again", sicher. Songs, die über die Jahre zu zeitlosen Klassikern avancieren.
Anthony B. wächst als Keith Blair in Clarks Town im Bezirk Trelawny, Jamaika auf, der für seine Freiheitskämpfer, die sog. Maroons, während der britischen Kolonialzeit bekannt ist. Klar, dass Anthony B. einen besonderen Draht zu diesem Thema besitzt und es ihm wichtig ist, immer wieder an seine afrikanischen Wurzeln zu erinnern.
Seine Mutter ist Gemeindemitglied der Adventisten des siebten Tages, doch Blair wendet sich in früher Jugend dem Rasta-Glauben zu. Zunächst gehört er der Glaubensrichtung der Nyahbinghi an, die an ihren offenen Dreadlocks zu erkennen sind.
Später, er sieht sich selbst als spirituell gereift an, wechselt er zur Richtung der Bobo-Dreads. Diese folgen dem Gründer ihrer Bewegung König Emmanuel Charles Edwards und tragen weite Gewänder, verhüllen ihre Dreadlocks mit einem Turban. Eine hoheitliche Erscheinung, die meist noch ein hölzerner Gehstock komplettiert.
Anthony B.s Beziehung zur Musik entwickelt sich ganz natürlich im Gottesdienst und im Schulchor. Sein Debüt als DJ gibt er beim Soundsystem Shaggy Hi-Power. 1988 zieht er nach Portmore und tut sich mit einigen anderen begabten DJs und Sängern zusammen, um seine Skills zu verbessern. 1991 gewinnt Anthony B. einen Wettbewerb und darf beim legendären Sunsplash-Festival auftreten. Sein Single-Debüt folgt 1993 - "The Living Is Hard". Von diesem Punkt aus geht es für den Künstler steil bergauf.
1996 schlägt sein Album "So Many Things" auf Anhieb ein. Doch Anthony B. ist nicht unumstritten. Viele Radiostationen weigern sich, seinen Hit "Fire Pon Rome" zu spielen. Grund ist der mehr als papstkritische Ton in diesem Song. Ein Widerspruch zu seinem Engagement gegen Waffengewalt in seiner Heimat. Es zeigt jedoch, was auch hinter dem Rasta-Kult steckt: radikale religiöse und kulturelle Ansichten.
Das 1997 erscheinende Album "Universal Struggle" baut Blairs Stellung in der jamaikanischen und der karibischen Reggaeszene weiter aus. Auch international macht er damit von sich reden. Wegen einer Äußerung, in der er vorschlug, den jamaikanischen Premierminister zum Feuertod zu verdammen, muss sich der Sänger im September 2001 vor Gericht verantworten. Er beharrt darauf, seine Äußerung sei metaphorisch zu verstehen.
2002 kollaboriert der Sänger mit dem Berliner Reggae-Kollektiv Seeed auf dem Track "Waterpumpee", einer Adaption des Anthony B. Songs "Waan Back". Er arbeitet außerdem immer wieder mit Sizzla, Luciano, Gentleman, Sly & Robbie und zahllosen anderen Kollegen zusammen.
Anfang des neuen Jahrtausends blickt Anthony B. bereits auf eine umfangreiche Diskographie zurück und veröffentlicht fleißig weiter. Sein Bekanntheitsgrad reicht rasch weit über die Grenzen Jamaikas hinaus. Auch in Deutschland wird er Reggae-Interessierten zum feststehenden Begriff.
In Deutschland macht Anthony B. auch einen Studenten der 'Deutsche POP' urplötzlich recht bekannt. Lukki Lion erstellt in München den "World Peace Riddim". Gastbeiträge auf diesem Riddim teilt sich der Anton aus der Karibik mit dem Schweiz-Jamaikaner Elijah, mit Iriepathie aus Österreich und dem Bajuwaren Jahcoustix. Zahlreiche Alben später etabliert sich "yagga yagga yo!" zwar als unverkennbarer Schlachtruf von Anthony, aber unter den beliebtesten Songs seiner Konzerte bleiben einige seiner früheren Tunes, vor allem "Raid The Barn" (1996) und "Police" (2002).
Durch starke Tourpräsenz hält Anthony B. seinen Ruf als starker Entertainer in Europa durchgängig aufrecht und wird immer wieder gerne als Headliner gebucht. Erst mit "King In My Castle" gelingt ihm wieder ein markanter Ohrwurm. Auf den Song im Frühjahr 2017 folgt dann erst mal nicht viel - für März 2020 ist das zugehörige Album mit 18 Tracks angesetzt.
© Laut
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