Jorge Bolet
Das Schicksal des großen kubanischen Pianisten (1914-1990) ist völlig atypisch. Dieser engagierte Interpret, um nicht zu sagen Spezialist für die Musik von Franz Liszt, begann bereits sehr früh, gleich nach Abschluss seiner Studien in Philadelphia und in Europa (Wien und Paris), wo er bei Josef Hofmann, Leopold Godowski und Moriz Rosenthal studiert hatte, eine Karriere als Konzertpianist und Pädagoge. Zwischen 1939 und 1942 arbeitete er als Assistent des großen Rudolf Serkin am Curtis Institute in Philadelphia. Während des Krieges verfolgte er gleichzeitig eine diplomatische Karriere als Attaché an der kubanischen Botschaft in den Vereinigten Staaten. Er wurde amerikanischer Staatsbürger und unterrichtete an renommierten Universitäten wie etwa an der Indiana-Universität in Bloomington, bevor er 1977 Serkins Nachfolge antrat. In dieser Zeit wurde er dank seiner neuen Liszt-Einspielungen für DECCA in Europa entdeckt. Eine eigenartige Wendung des Schicksals für jemanden, der bereits seit 25 Jahren Musikaufnahmen realisiert und der sich vor allem dem Unterrichten verschrieben hat.
Jorge Bolet spielte nur auf Baldwin-, oder Bechstein-Flügeln, die er für jedes Konzert und für jede Aufnahme forderte, und begann mit über 60 Jahren eine neue Karriere. Mit seinem altertümlichen Schnurrbart, seiner makellosen Eleganz und seinen erlesenen, etwas überholten Manieren tauchte er plötzlich in einer Welt auf, in der die großen legendären Pianisten Wilhelm Kempff, Arthur Rubinstein, Vladimir Horowitz, Claudio Arrau oder Emil Gilels nach und nach verschwanden.
Dank des Vertrages mit DECCA hat Jorge Bolet zahlreiche Werke seines Lieblingskomponisten Liszt aufzeichnen können. Seine große Liebe zu Liszt stammt aus seiner Jugend, von seinem Lehrer Emil von Sauer, der bei dem ungarischen Komponisten studiert hatte. Wir verdanken Jorge Bolet eine bemerkenswerte Aufnahme der Années de pèlerinage, glänzend durch sein virtuoses und poetisches Temperament, sowie von einem ausgesprochen flüssigen Klang. Bei der Einspielung der Etudes d’exécution transcendante interessierte ihn nicht in erster Linie das Tempo – diesen Fehler beging er übrigens nie –, sondern die ungewöhnliche Abwechslung in Verbindung mit einem äußerst flexiblen Anschlag und einer großen Feinsinnigkeit. Er liebte die vielen Operntranskriptionen und -paraphrasen von Liszt sehr und spielte sie mit Genuss und verspielter Leichtigkeit.
Sein Konzert am 25. Februar 1974 in der Carnegie Hall – auf QOBUZ erhältlich – bleibt legendär. An diesem Abend kehrte Jorge Bolet wieder ins Rampenlicht zurück und erlebte den Auftakt zu einer zweiten Karriere, die 16 Jahre dauern sollten. Das Programm reichte von Bach-Busoni, den Préludes von Chopin bis hin zur Tannhäuser-Ouvertüre in einer Überarbeitung von Liszt und zahlreichen Zugaben. Die Atmosphäre war spannungsgeladen.
Aber seine Diskografie hört bei Liszt nicht auf. Wir verdanken diesem großen Pianisten eine der schönsten Einspielungen des Concert en ré von Ernest Chausson mit Itzhak Perlman und dem Juilliard Quartett. In Montreal nahm er mit Charles Dutoit die Klavierkonzerte von Rachmaninow und Tschaikowski, in Berlin mit Riccardo Chailly die von Grieg und Schumann auf, in angenehmen Tempi und mit einem wunderbaren Klang. Außerdem hat er uns Aufzeichnungen von Werken von Schubert, Chopin, Grieg, Schumann und Debussy hinterlassen. Mit diesen heute erhältlichen Neuauflagen wird es möglich, Jorge Bolet in den Aufnahmen aus seiner Jugend und denen aus der jüngsten Zeit sich selbst gegenüberzustellen. Einfach fantastisch!
François Hudry/QOBUZ/November 2017
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