PJ Harvey
Wenn PJ Harvey mit roten Pumps, dem knappsten denkbaren Kleid und einer E-Gitarre an der Hüfte auf der Bühne steht, hält das Publikum den Atem an. Mit einem aufgemotzten Popsternchen hat die Engländerin aber kaum etwas gemeinsam, im Gegenteil: Was sie mit ihrem Instrument und ihrer Stimme erzeugt, hat nichts mit Charts zu tun, sondern mit dem Sinn des Lebens. Den sie an Orten sucht, an die sich die meisten Menschen nie trauen würden.
1969 in der englischen Grafschaft Dorset geboren, wächst Polly Jean bei Hippie-Eltern auf, die sie mit Jazz und Blues, aber auch mit Jimi Hendrix und Captain Beefheart bekannt machen. Als Jugendliche lernt sie Saxophon, später auch Gitarre. Als Teenager beginnt sie, in Bands zu spielen, unter anderem bei Automatic Dlamini an der Seite von John Parish.
1991 tut sie sich mit Rob Ellis am Schlagzeug und Ian Oliver am Bass zusammen, Oliver wechselt jedoch bereits vor dem ersten Album wieder zurück zu Automatic Dlamini, seinen Platz nimmt zunächst Steve Vaughan ein. Der Fokus liegt eindeutig auf der Sängerin mit der Gitarre, wie der Bandname PJ Harvey zeigt. Für ihr Debüt-Album "Dry" (1992) und den von Steve Albini produzierten Nachfolger "Rid Of Me" (1993) hagelt es Lob und Preisnominierungen.
Seit 1989 kennt sie Nick Cave, mit dem sie jahrelang eine stürmische Beziehung verbindet. Zwar soll sie einen überaus mäßigenden Einfluss auf den seinerzeit labilen Australier gehabt haben, doch die Trennung Mitte der 90er Jahre nimmt beide stark mit. 1996 verewigen sie sich noch in Caves Murder-Ballad "Henry Lee".
Trotz der Liebesenttäuschungen läuft die Karriere weiterhin auf Hochtouren. Auf "To Bring You My Love" (1995) spielt Harvey fast alle Instrumente selbst, die Produktion vertraut sie Flood an, der zuvor schon für U2 und Nine Inch Nails gearbeitet hatte. Bei "Is This Desire?" (1998) nimmt sie dagegen wieder die Hilfe einiger langjähriger musikalischer Begleiter in Anspruch. Zwischendrin arbeitet sie mit ihrem ehemaligen Bandkollegen John Parish an der EP "Dance Hall At Louse Point" (1996).
Die Nachricht, dass "Stories From The City, Stories From The Sea" (1999) den renommierten Mercury Music Prize erhält, erreicht die Musikerin ausgerechnet am 11. September 2001 in Washington D.C., wo sie im Rahmen einer US-Tournee Station macht. An dem Tag des verheerenden Anschlags wirkt solche Ehrung doch sehr nebensächlich, und so kann Harvey auch keine Freude zu Protokoll geben, sondern nur Entsetzen: "I can genuinely say I'm absolutely shocked."
Viele Konzerte gibt sie sowieso nicht. Doch jeder ihrer Auftritte nimmt Fans wie Kritiker in Zauberhaft. Zu ihren Bewunderern zählt neben der gesamten britischen Musikszene auch ein gestandener US-Rocker wie Dave Wyndorf von Monster Magnet. Selbst ein Einzelkämpfer wie Howe Gelb zeigt sich entzückt, als sich Harvey zwischen einem Auftritt und dem Taxi zum Flughafen kurz Zeit nimmt, um mit seinen Giant Sand eine Coverversion des L.A.-Punk-Klassikers "Johnny Hit And Run Pauline" von X aufzunehmen. Trotz ihrer Erfolge kann sie beim großen Publikum nach wie vor nicht landen, beeindruckende Charterfolge bleiben ihr auch mit dem vergleichsweise sanften 2004er Album "Uh Huh Her" verwehrt.
Es gebe schon zu viel Musik auf der Welt, um einfach noch mehr von der selben Art hinzuzufügen, erklärt die Musikerin 2007. "A new sound that I hadn't heard before. A new kind of music", verspricht sie, und stellt mit "White Chalk" ihr erstes Album ohne verstärkte Gitarre und dafür mit Klavier vor, was die Dunkelheit ihrer Kompositionen noch einmal mehr hervorhebt.
Die Begeisterung der Fans und der Kritiker hält sich diesmal aber in Grenzen. So tut sich Harvey wieder mit John Parish zusammen und veröffentlicht 2009 das gemeinsam geschriebene und mit Mick Harvey aufgenommene "A Woman A Man Walked By", das wieder verstärkt auf Gitarren setzt.
Mit einer starken politischen Botschaft und mit Saxophon, Autoharp, Mellotron und Xylophon ungewöhnlich instrumentiert kommt dagegen 2011 "Let England Shake" daher, PJs Abrechnung mit ihrer Heimat, die sich schon zu lange im Krieg ('gegen den Terror') befindet. Als erste Künstlerin verleiht man ihr für das Album zum zweiten Mal den renommierten Mercury Music Prize.
Danach dauert es eine Weile, bis die Sängerin neue Inspirationen aufsaugt, die eventuell in Songs einfließen. Maßgeblich in Fahrt kommt der Songwritingprozess, nachdem sie Reisen nach Washington, nach Afghanistan und in den Kosovo unternimmt.
Die amerikanische Hauptstadt mag in dieser Aufzählung zuerst fremd wirken, doch Harvey besucht den Bezirk Ward 7, eine heruntergekommene Gegend, die sie im Song "The Community Of Hope" als eine "Stadt voller Drogen" bescheibt, in der nur "Zombies" leben. Der Gegenwind einiger Lokalpolitiker folgt postwendend.
Das im April 2016 erscheinende Album "The Hope Six Demolition Project" ist ihre neunte Platte. Sie entsteht im berühmten Somerset House in London auf besondere Art und Weise. PJ Harvey lässt die Öffentlichkeit an der Entstehung teilhaben. Während die Sängerin und ihre Band spielen, können Zuschauer das Treiben hinter Spiegelglas verfolgen. Selbst nach 25 Jahren im Musikbusiness strebt die Britin immer noch nach Veränderung und neuen Impulsen für ihre Kunst.
© Laut
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