Igor Levit
"Ich bin Bürger dieses Landes und ich trage damit Verantwortung für meine Mitmenschen, für Freunde, für meine Familie, für meine soziale Umgebung", erklärt Igor Levit in "Kulturzeit", "Das hat gar nichts damit zu tun, ob ich auf dem Weg bin in der Klassik-Welt oder ob ich Koch geworden wäre." Wie nur wenige Musiker hierzulande verknüpft er die Kunst mit der Politik. Für ihn gebe es "keine unpolitische Musik", äußert er gegenüber der Zeitung Der Freitag, "Musik ist noch immer von Menschen geschrieben. Und diese Menschen haben in ihrer Zeit gelebt und darauf reagiert".
Igor Levit wird 1987 im russischen Nischni Nowgorod geboren, das damals noch den Namen Gorki trug. Als habilitierte Musikpädagogin bringt seine Mutter die nötigen Fertigkeiten mit, um dem gerade dreijährigen Sohn Klavierstunden zu geben. Bereits im Alter von sechs spielt er erste Konzerte in seiner Heimatstadt. Doch die Familie entscheidet sich dazu, die zerfallende Sowjetunion zu verlassen. Als jüdische Kontingentflüchtlinge siedeln sie nach Hannover um, wo der angehende Musiker ein humanistisches Gymnasium besucht.
1999 erhält er für ein Jahr Unterricht an der Kunsthochschule Mozarteum in Salzburg. Mit dreizehn Jahren beginnt er sein Studium an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover, das er 2010 mit einem Klavierexamen abschließt. Mittlerweile ist er an seine alte Bildungsstätte zurückgekehrt, um als Professor für Klavier selbst zu unterrichten. Der Weg dorthin führt Igor Levit über die Arbeit als Live-Musiker. Über Jahre verschafft er sich über Auftritte mit Kammer- und Symphonieorchestern einen Ruf, der über die Grenzen Deutschlands weit hinausreicht.
"Dieser junge Mann hat nicht nur das Zeug, einer der großen Pianisten dieses Jahrhunderts zu werden. Er ist es schon", urteilt die FAZ bereits 2010. Sein erstes Album erscheint allerdings erst im Sommer 2013. "Beethoven: The Last Piano Sonatas" umfasst die letzten fünf Klaviersonaten Ludwig van Beethovens. Georg Diez vom Spiegel erkennt in Levits Interpretationen eine "brutale Schönheit", die seine Hörerschaft "erschüttert und erleichtert" zurücklasse. Als Belohnung erhält er den Echo-Klassik, den er einige Jahre später aus Protest gegen die Rapper Kollegah und Farid Bang zurückgibt.
Nach Beethoven wendet er sich Johann Sebastian Bach zu. Levit spielt die sechs Partiten des Barock-Musikers für sein zweites Werk "Bach: Partitas BWV 825-830" ein. Das Magazin Kultur-Port zeigt sich begeistert. Der Pianist entfessle "ganz unprätentiös sein eigenes aufregendes, wahrhaft spektakuläres Bach-Universum". 2015 veröffentlicht er sein drittes Album "Bach, Beethoven, Rzewski", gefolgt von "Life" und "Beethoven: The Complete Piano Sonatas". Dass ihn die breite Öffentlichkeit allmählich wahrnimmt, lässt sich an den ordentlichen Platzierungen in den Album-Charts ablesen.
Den entscheidenden Bekanntheitsschub erfährt der Musiker durch die Corona-Pandemie. In der ersten Welle streamt er allabendlich seine "Hauskonzerte" – auch um auf die fehlenden Auftrittsmöglichkeiten aufmerksam zu machen. So bringt Igor Levit an 52 Abenden dieser frühen pandemischen Phase seinen Zuhörerinnen und Zuhörern Pjotr Tschaikowski, Franz Liszt oder Robert Schumann nahe. Im April 2020 spielt er auf Einladung des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier eines dieser Konzerte im Schloss Bellevue.
Zunehmend rückt nun auch sein politisches Engagement gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus in den Fokus. Vor allem auf Twitter ist er in politischen Kreisen bestens vernetzt und äußert sich regelmäßig zu drängenden Themen. "Der Lerneffekt für mich über diese sozialen Medien hat auch eine riesengroße Rolle auf meinem persönlichen Weg gespielt", berichtet er in 3sats "Kulturzeit". Für die Musikwelt sei das Jahr "eine absolute Katastrophe biblischen Ausmaßes" gewesen, doch er selbst habe sich zugleich "beinahe freigespielt als Musiker wie noch nie zuvor".
Zugleich folgt nun auch negative Kritik. Die Süddeutsche veröffentlicht eine regelrechte Abrechnung mit dem künstlerischen und politischen Schaffen des "Twitter-Virtuosen". Zur "Verkaufspsychologie" gehöre leider eine "mit Dauerpräsenz verbundene Qualitätsvermutung". So treffe es auf Levits Hauskonzerte zu. Der Bayerische Rundfunk kommt dem Pianisten zu Hilfe. In einer Erwiderung bezeichnet der Sender die musikalische Kritik als "falsch, schnöselig, lausig begründet". Die Attacken auf sein Engagement seien aggressiv, unsolidarisch und tendieren "stark in Richtung Eigensatire".
Igor Levits Präsenz weitet sich aus – und greift weiter auf die Popkultur über. Nach seinem Album "Encounter" veröffentlicht er mit Florian Zinnecker das Buch "Hauskonzert". In Jan Böhmermanns "ZDF Magazin Royale" begleitet er für den Song "Das Ist Alles Von Der Kunstfreiheit Gedeckt" den Rapper Danger Dan. Das verwundert nur auf den ersten Blick. Im GQ-Gespräch erklärt er im Rückblick auf seine eigene Jugend: "Über den Osterfelddamm in Hannover zu spazieren und 'The Way I Am' von Eminem zu hören war mir näher als der Großteil meiner Jungstudentenzeit."
Die heutige Jugend lobt er ausdrücklich für ihr politisches Engagement: "Ich hätte mir gewünscht, wir wären so wie die Generation, die jetzt kommt." Für seinen eigenen Einsatz erhält er das Bundesverdienstkreuz am Bande durch Frank-Walter Steinmeier, bei dem er sich 2022 revanchieren kann. Auf Vorschlag der niedersächsischen Grünen nimmt Levit als Delegierter an der Bundesversammlung teil. So nutzt er gewissenhaft jede Gelegenheit, sich einzubringen: "Das Fundament, auf dem ich stehe: Ich bin Bürger dieses Landes und trage Verantwortung."
© Laut
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