Everything Everything
"Kniet nieder zu den Füßen der neuen Picassos des Pop", verlangt der New Musical Express gebieterisch. Wenn sich sogar der Hipster unter den hippen Musikmagazinen zu solchen Lobeshymnen hinreißen lässt, könnte da eventuell etwas dran sein.
Auch die BBC, Mojo und das Q Magazine reihen sich im Sommer 2010 in die Abfeierei von Everything Everything ein: Die vier Jungs aus Manchester, Newcastle und Kent wissen einfach, was sie tun. Ihr launiger, emotional aufgeladener, einzigartiger Genrebastard aus Post-Punk-Indie-Synthpop-Avantgarde-Elektro ist alles andere als Hintergrundgedudel. Das Debüt "Man Alive" fordert volle Aufmerksamkeit, die mit einmaligen Ideen belohnt wird.
Die Erfolgsstory nimmt ihren Anfang, als die BBC die Band im Dezember 2009 unter die 15 Acts des "Sound of 2010" aufnimmt. Ab da gibt es kein Halten mehr: Begeisterungsstürme von den nördlichsten Ausläufern der Highlands bis zur englischen Südküste am Ärmelkanal machen Musikmagazine und Blogs aller Welt auf Jonathan Higgs, Jeremy Pritchard, Alex Robertshaw und Michael Spearman aufmerksam.
Mitte 2010 erscheint "Man Alive", das sämtliche Versprechen einlöst: Die Scheibe strotzt nur so vor Einfällen, Raffinessen und Kniffen. Die vier Halbgötter an Tasten und Saiten zelebrieren ihre eigene Exzentrik auf scheinbar anarchische, doch im Grunde durchdachte Art und Weise. Dabei lassen sie ein ausgebufftes Werk so klingen, als entspringe es ungefiltert Hirn, Herz, Hand und Mund, als feuerten sie es direkt in unsere Ohren. Wohlkalkulierte Soundkonstrukte klingen nach wüstem Chaos.
Ob sperrig und stürmisch, ob fragil und balladesk, ob schrill und extrovertiert: Der Sound von Everything Everything sprengt alle Zuordnungen. Da klingt es ausnahmsweise nicht wie eine leere Floskel, wenn Jonathan meint: "Meine einzige Regel beim Musikmachen war immer, nicht wie irgendjemand sonst zu klingen."
Dieser Maxime folgen auch die Werke "Arc" (2013) und "Get To Heaven" (2015) mit beeindruckender Lässigkeit. "A Fever Dream" (2017) sowie die EP "A Deeper Sea" (2018). "Re-Animator" (2020), die "Supernatural"-EP (2021) und das sechste Studioalbum "Raw Data Feel" (2022) fügen der Diskografie weitere Bausteine hinzu, erscheinen nun aber auf dem bandeigenen Label Infinity Industries. Letztere Platte darf dabei als die bis dato nerdigste Veröffentlichung der Engländer bezeichnet werden.
Zwar gibt es gewohnt viel tanzbaren und melodiösen Wohlklang auf die Ohren (von dem ein oder anderen experimentellen oder dunklen Ton mal abgesehen): Bei Texten, Artwork und Albumpromo von "Raw Data Feel" mischte aber eine eigens entwickelte KI mit. Higgs zufolge trainierte er seinen künstlichen Sparringpartner zuvor mit den Inhalten von 4Chan-Postings, "Beowulf" (ein frühmittelalterliches Heldenepos), offiziellen LinkedIn-Formulierungen sowie Sprüchen des chinesischen Philosophen Konfuzius. Welche der Textpassagen von der KI namens Kevin stammen, das "fünfte Bandmitglied", wie Higgs ausführt, ließ er dabei offen. Und welche Band wäre besser dafür geeignet, die Thematik 'Mensch trifft Maschine' musikalisch zu verschmelzen bzw. zu vertonen, als Everything Everything? Bei der kristallklaren Produktion hat wieder Gitarrist Robertshaw seine Finger im Spiel.
So oder so sorgen die vier Jungs mit ihren Grooves und Melodien bei jedem neuen Album für Aufmerksamkeit: An dem tanzbaren Sound-Bastard kommt kaum ein Indie-Elektro-Fan so schnell vorbei. Die Laune steigert sich von Platte zu Platte, sowohl bei den Machern, als auch den Zuhörern: Denn tanzen ist und bleibt die beste Medizin!
© Laut
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