Hi-Res
"Yo soy muy mía, yo me transformo / Una mariposa, yo me transformo / Makeup de drag queen, yo me transformo / Lluvia de estrеlla', yo me transformo" besingt sich Rosalía auf dem ersten Refrain des Albums. Nach dem Durchbruch als Wiederbeleberin des Flamencos mit "El Mal Querer" scheint diese Gestalten-Wandlerei ihr Thesis Statement zu sein. Ich habe die letzte Woche mit nichts anderem verbracht als mir Interviews, Essays, Reviews und Kritiken zu ihr durchzulesen. Ich weiß, soll man nicht machen. Aber "Motomami" von Rosalía ist ein furchteinflößendes komplexes Netz an Referenzen.Der eine Song zitiert Justo Betancourt, einen kubanischen Superstar aus den Sechzigern, das Intro baut auf einem Reggaeton-Song mit Daddy Yankee-Feature von 2004 auf, hier arbeitet ein argentinischer Star-Produzent, da Tainy, da El Guincho, hier ein Rapper aus der dominikanischen Republik, hier dieses Genre, da dieses Genre, dazu noch James Blake, The Weeknd, Pharrell Williams und das Echo von Arca: Die Spanierin setzt ihrem musikalischen Genie mit einer Doktorarbeit der Genre-Architektur ein Denkmal. Und ich werde mich nun an all dem ignorant vorbei manövrieren und argumentieren: Was auch immer. Es klingt auf jeden Fall hammergut.Vielleicht tut es auch einfach gar nicht so sehr weh, den kulturell vielschichtigen Unterbau dieser Platte erst einmal auszublenden, wenn es so viel Spaß macht, ihr auf einer oberflächlichen Ebene zuzuhören. Über die 16 Songs zeigt sie, dass sie sich weg von der Avantgarde orientiert und sich darauf fokussiert, Songs mit einem universellen Pop-Appeal zu schreiben. Und dabei hält sie die Aufmerksamkeit der Hörerinnen und Hörer so virtuos hoch, dass man keine fünf Sekunden abschweifen kann. Die Songs sind so von vorn bis hinten vollgepackt mit Ideen und Details, sie schlagen Haken und Wendungen an jeder Ecke und sind so eng um einzelne Ideen geschlungen, dass jede Sekunde sich essentiell anfühlt. Das beginnt schon bei den Bangern, die auf der Oberfläche gut und gerne als hirnlose Girlboss-Anthems gelesen werden können und als solche auch wunderbar funktionieren. Spätestens ihre Zusammenarbeiten mit Bad Bunny, J Balvin und Tokischa haben dafür gesorgt, dass sie die hocheffizienten Groove-Haushalte der lateinamerikanischen Megastars verstanden hat. Die magischen letzten dreißig Sekunden ihres Hits "Con Altura" mit J Balvin und Produzent El Guincho strahlen in die besten Momente dieses Albums. Da pulsierte nur ein Reggaeton-Beat mit unregelmäßig flackernden Vocalsamples und einem psychedelischen Synthesizer. Diese letzte Passage macht es physisch unmöglich, sich nicht dazu zu Bewegen.Die Faszination mit diesen Beat-Momenten entsteht dadurch, dass sich jedes Element so absolut notwendig anfühlt, um diesen tighten Groove aufzubauen. Der Song bounct so frei und kontrolliert gleichermaßen, es zieht den Hörer und die Hörerin an die Kante des Sitzes. Schon das Intro "Saoko" macht genau das über die ganze Spielzeit. Ein Reggaeton-Groove unter einer verzerrten Piano-Line, ergänzt um ein paar perfekt in den Rhythmus eingebrachte "pow"-Adlibs und Vocal-Samples, dann schraubt sich die Verzerrung hoch, bricht in einem jazzigen Interlude auseinander und setzt sich fürs Finale noch einmal zusammen. Dieser Song slappt wie ein Erdbeben. Songs wie "Chicken Teriyaki", "Motomami" und "Diablo" könnte man vielleicht TikTok-Bait vorwerfen, aber eigentlich zeigen sie nur die bestmögliche Lehre, die ein Musiker oder eine Musikerin aus dem TikTok-Zeitalter ziehen kann: Bau einen Song um eine starke musikalische Idee, um ein einschlägiges Motiv, führe schnell hin, führ schnell weg. Es sind nicht dreißig geile Sekunden, umgeben von zwei Minuten Beiwerk, sondern 30 Sekunden ausgebaut zu zwei Minuten effektivem Geschepper. Das Highlight bildet aber der vorletzte Song "La Combi Versache", auf dem die sphärischen Synthesizer in den Abgrund ziehen, die Produktions-Details hypnotisieren und Rosalía und Tokischa sich ein geladenes, intensives Duell liefern. Die letzten dreißig Sekunden sind der Kopfnicker aller Kopfnicker. Die Produktion kommt von Tainy, wieder El Guincho, aber auch von Michael Uzowuru und Pharrell. Und sie erfüllt alle Fantasien, die dieses Line-Up ergeben könnte. Es sind Songs, die eine körperliche Reaktion, eine Bewegung, geradezu erzwingen. Wer hätte auch gedacht, dass sich Rosalias große, sonnenklare Flamenco-Stimme mit all ihrem klassischen spanischen Musik-Akademie-Training so sehr für lässiges Rappen eignen würde? Sie bleibt ein stimmliches Chamäleon, vor allem, wenn alle paar Nummern ein paar dieser gigantischen, dekonstruierten Balladen eingeschoben werden. Das surreale "Hentai" zeigt die volle Spannweite ihrer immensen Stimme, während sich experimentelle Drum-Texturen in das Finale mischen. Nicht der einzige Moment, in dem Arcas Einfluss aufschimmert, "Cuuuuuuute" zum Beispiel schraubt sich ebenfalls in eine Hyperpop-angelehnte Pop-Dekonstruktion hoch. "Como Un G" und "Sakura" halten diesen Stil, man möchte fast an "Cellophane" von FKA Twigs denken, so groß und übernatürlich klingt ihre Stimme da, allein "Candy" mit dem "Archangel"-Sample von Burial fühlt sich wie eine lineare Ballade mit einem linearen Refrain an. Und damit haben wir gerade mal die musikalischen Eckpunkte von "Motomami" abgedeckt: Dazwischen passiert noch so vieles mehr, zum Beispiel, wenn sie auf "La Fama" mit The Weeknd in das Genre des dominikanischen Bachata vordringt oder "Delirio De Grandeza" von Justo Betancourt mit einem Soulja Boy-Sample unterwandert. So vieles auf diesem Album arrangiert kühne und kontrastreiche Ideen der lateinamerikanischen Musikgeschichte mit dem Kopf eines musikalischen Alchemisten. Die Frage, ob und inwiefern das alles kulturell sensibel ist, vermag ich hier nicht zu beantworten, aber kann nur anmerken, dass diese weiße Spanierin hier Sounds auftut, die einem westlichen Publikum sonst eher verborgen geblieben wären, aber in ihrer Musik die Fußnoten mit angeben. Sie ist also nicht nur Ausverkauf, sondern auch Einstiegspunkt für die Dinge, die sie inspiriert.Vor allem bleibt aber der unerbittliche Poptimismus im Gedächtnis, der "Motomami" durchzieht. Es ist eine avantgardistische Methode, aber zur Zielgruppe kann die ganze Welt gehören. Wer sonst würde sonst so viele Genres so zielsicher und so versiert mischen wie Rosalía? Dieses dritte Album kann auch ohne jeden Kontext mit dem Ausgangsmaterial gehört werden und rechtfertigt sich jede Sekunde selbst. Die Referenzen reihen sich an Referenzen reihen sich an Querverweise reihen sich an Hommagen und Zwischenspiele. So lange, bis alles so kleinteilig wird, dass es schwerfällt, die Musik überhaupt noch mit etwas zu vergleichen. Das Tracklisting, die Songstrukturen, das Pacing, die Grooves, die Vocal-Performances: Alles davon grenzt dabei an einschüchternde Perfektion. Niemand anderes wäre in der Lage gewesen, dieses lateinamerikanische "Yeezus" abzuliefern, das gleichzeitig radikal nach vorne denkt und trotzdem ein absoluter Crowdpleaser ist. Dass "Motomami" auch noch so unverschämt viel Spaß macht, grenzt dann fast schon an Dreistigkeit.© Laut