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Drei Jahre haben sie am "Insider"-Nachfolger gefeilt und sich schier einen abgebrochen. Ohne Label im Rücken war es eine Gratwanderung. Immer am Existenzminimum balancierten sich Sel, Neil und Matt entlang, ehe die Geburt eines Monstrums gelang. Jetzt ist er da. Acht Arme hat er, der Oktopus, die er über zwei CDs schlängelt. Genau zwei Stunden Musik, die es wahrlich in sich haben.
Leicht machen es die Engländer ihren Hörern nicht. Wer aber reichlich Aufmerksamkeit aufbringt und sich an unkonventionellen Songstrukturen und -texturen nicht stört, der wird mit einem wahren Meisterwerk belohnt.
Zuerst setzt sich das straighte "Interglacial Spell" langsam im Gedächtnis fest. Ein geradewegs nach vorne stampfender Rhythmus kennzeichnet den wohl konventionellsten Song des Doppel-Albums, was nicht heißt, dass hier ein banales Stückchen Musik um die Ecke huscht. Im Gegenteil. Dank einer Produktion, die diese Bezeichnung auch wahrhaftig verdient, wütet der Zauberspruch wie ein Berserker. Ein erstes Highlight ist also gesetzt.
Der Rest des Kraken-Oeuvres erschließt sich jedoch nur ganz langsam und zögerlich, so als ob Amplifier das Produkt ihrer Arbeit nur ungern aus der Hand geben wollen. Hier eine wunderschöne Melodie, dort ein hirnfickender Psychotrip, da ein nett gesetzter Rhythmus ... Exemplarisch sei "Trading Dark Matters At The Stock Exchange" erwähnt. Was in den 70ern unter experimentellem Jazzrock firmierte, zitieren Amplifier wohlgemut im zweiten Teil des über elfminütigen Schinkens.
Manches Mal scheint es, als ob die Band um ihre Musik eine Barriere aufbaut, die mit aller Gewalt erstürmt werden möchte. Die Zeit, bis die Wälle genommen werden können, zieht sich allerdings dahin. Wer nicht aufgibt, dem winkt jedoch ein atemberaubendes Gesamtkunstwerk, das vor Song-Perlen und Ideen-Diamanten nur so strotzt. Man nehme nur "White Horses At Sea": Wie eine bildliche Umsetzung des Albumtitels schlängeln sich Gitarren-Melodien um verzerrte Bass-Klänge und sanften Gesang. Die Kombination mündet im Mittelteil in einen wahren Killer-Hook.
Mit dem, was Amplifier hier als Teile eines Tracks begreifen, bestreiten andere Bands ein ganzes Album. So nimmt es kaum Wunder, dass das Trio Badababa-Chöre ganz unpeinlich in ein Song-Ungetüm einbauen und sich das am Ende so stimmig anhört wie nur irgend möglich. Das klingt wie Magie und besitzt im progressiven Bereich momentan eine Alleinstellung, an die keiner rankommt.
Daneben glänzt der erste Teil mit einer wunderschön gemachten Hommage an Queen ("Minion's Song"). Die choralen Arrangements klingen so augenzwinkernd nach Freddie Mercurys Fairlight-Spielereien, dass es kaum Zufall sein kann. Überhaupt Zitate. Sel Balamir zitiert in "Interstellar" Pink Floyd mit "set the controls for the heart of the sun" und meldet so gleichzeitig einen künstlerischen Anspruch an, der als Größenwahn fehlinterpretiert werden kann. Nur wer kreative Großtaten wie "The Octopus" folgen lässt, dem mag man das allzu gerne durchgehen lassen. Amplifier als neue Pink Floyd? Warum eigentlich nicht?
Der Ideenreichtum der Band scheint unüberschaubar. "The Sick Rose" räkelt sich um orientalische Melodie-Linien, die Sel mit einem Muezzin-haften Gesang auskleidet, ehe sich ein Abgrund öffnet und furiose Riffs die zarte und zerbrechlich klingenden Atmosphäre in der Luft zerfetzt und in den Abgrund des Wahnsinns treibt.
Am Spielen mit den Gegensätzen findet die Band offenbar ohnehin Gefallen. "Interstellar" benötigt über eine Minute, ehe der Song nach einem Spieldosenmelodie-Intro ordentlich an Fahrt gewinnt und klanglich die lyrische Überlichtgeschwindigkeitsfahrt perfekt in Szene setzt. Dabei fällt kaum auf, dass sie den Rhythmus des Kinderspielzeugs einbauen. Genau diese kleinen aber ungemein spannenden Feinheiten machen aus einem guten ein großes Album. "The Octopus" ist genau das geworden: ein großes, großes Album, dass einem als Rockfan das Herz vor Freude fast aus dem Hals hüpfen will, da es eine wirklich lange Halbwertszeit besitzt.
Wer sich an Musik gerne das Hirn einrennt, wer ein Werk auch als Hand-Werk begreift, wer Intelligenz nicht als Verkopftheit versteht, wer Atmosphäre gerne mit beiden Händen greift und ganz nebenbei eine Band unterstützen will, die vollkommen autark von der Industrie agiert, soll nicht nur, sondern muss hier einfach zugreifen. "The Octopus" dürfte für Amplifier das "Nevermind" oder "Dark Side Of The Moon" werden, an dem sie sich in Zukunft messen lassen müssen.
Das Rockjahr 2011 ist zwar noch jung, aber wer dieses Untier von Album toppen will, wird sich wirklich ganz enorm strecken müssen.
© Laut
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Albumbeschreibung
Drei Jahre haben sie am "Insider"-Nachfolger gefeilt und sich schier einen abgebrochen. Ohne Label im Rücken war es eine Gratwanderung. Immer am Existenzminimum balancierten sich Sel, Neil und Matt entlang, ehe die Geburt eines Monstrums gelang. Jetzt ist er da. Acht Arme hat er, der Oktopus, die er über zwei CDs schlängelt. Genau zwei Stunden Musik, die es wahrlich in sich haben.
Leicht machen es die Engländer ihren Hörern nicht. Wer aber reichlich Aufmerksamkeit aufbringt und sich an unkonventionellen Songstrukturen und -texturen nicht stört, der wird mit einem wahren Meisterwerk belohnt.
Zuerst setzt sich das straighte "Interglacial Spell" langsam im Gedächtnis fest. Ein geradewegs nach vorne stampfender Rhythmus kennzeichnet den wohl konventionellsten Song des Doppel-Albums, was nicht heißt, dass hier ein banales Stückchen Musik um die Ecke huscht. Im Gegenteil. Dank einer Produktion, die diese Bezeichnung auch wahrhaftig verdient, wütet der Zauberspruch wie ein Berserker. Ein erstes Highlight ist also gesetzt.
Der Rest des Kraken-Oeuvres erschließt sich jedoch nur ganz langsam und zögerlich, so als ob Amplifier das Produkt ihrer Arbeit nur ungern aus der Hand geben wollen. Hier eine wunderschöne Melodie, dort ein hirnfickender Psychotrip, da ein nett gesetzter Rhythmus ... Exemplarisch sei "Trading Dark Matters At The Stock Exchange" erwähnt. Was in den 70ern unter experimentellem Jazzrock firmierte, zitieren Amplifier wohlgemut im zweiten Teil des über elfminütigen Schinkens.
Manches Mal scheint es, als ob die Band um ihre Musik eine Barriere aufbaut, die mit aller Gewalt erstürmt werden möchte. Die Zeit, bis die Wälle genommen werden können, zieht sich allerdings dahin. Wer nicht aufgibt, dem winkt jedoch ein atemberaubendes Gesamtkunstwerk, das vor Song-Perlen und Ideen-Diamanten nur so strotzt. Man nehme nur "White Horses At Sea": Wie eine bildliche Umsetzung des Albumtitels schlängeln sich Gitarren-Melodien um verzerrte Bass-Klänge und sanften Gesang. Die Kombination mündet im Mittelteil in einen wahren Killer-Hook.
Mit dem, was Amplifier hier als Teile eines Tracks begreifen, bestreiten andere Bands ein ganzes Album. So nimmt es kaum Wunder, dass das Trio Badababa-Chöre ganz unpeinlich in ein Song-Ungetüm einbauen und sich das am Ende so stimmig anhört wie nur irgend möglich. Das klingt wie Magie und besitzt im progressiven Bereich momentan eine Alleinstellung, an die keiner rankommt.
Daneben glänzt der erste Teil mit einer wunderschön gemachten Hommage an Queen ("Minion's Song"). Die choralen Arrangements klingen so augenzwinkernd nach Freddie Mercurys Fairlight-Spielereien, dass es kaum Zufall sein kann. Überhaupt Zitate. Sel Balamir zitiert in "Interstellar" Pink Floyd mit "set the controls for the heart of the sun" und meldet so gleichzeitig einen künstlerischen Anspruch an, der als Größenwahn fehlinterpretiert werden kann. Nur wer kreative Großtaten wie "The Octopus" folgen lässt, dem mag man das allzu gerne durchgehen lassen. Amplifier als neue Pink Floyd? Warum eigentlich nicht?
Der Ideenreichtum der Band scheint unüberschaubar. "The Sick Rose" räkelt sich um orientalische Melodie-Linien, die Sel mit einem Muezzin-haften Gesang auskleidet, ehe sich ein Abgrund öffnet und furiose Riffs die zarte und zerbrechlich klingenden Atmosphäre in der Luft zerfetzt und in den Abgrund des Wahnsinns treibt.
Am Spielen mit den Gegensätzen findet die Band offenbar ohnehin Gefallen. "Interstellar" benötigt über eine Minute, ehe der Song nach einem Spieldosenmelodie-Intro ordentlich an Fahrt gewinnt und klanglich die lyrische Überlichtgeschwindigkeitsfahrt perfekt in Szene setzt. Dabei fällt kaum auf, dass sie den Rhythmus des Kinderspielzeugs einbauen. Genau diese kleinen aber ungemein spannenden Feinheiten machen aus einem guten ein großes Album. "The Octopus" ist genau das geworden: ein großes, großes Album, dass einem als Rockfan das Herz vor Freude fast aus dem Hals hüpfen will, da es eine wirklich lange Halbwertszeit besitzt.
Wer sich an Musik gerne das Hirn einrennt, wer ein Werk auch als Hand-Werk begreift, wer Intelligenz nicht als Verkopftheit versteht, wer Atmosphäre gerne mit beiden Händen greift und ganz nebenbei eine Band unterstützen will, die vollkommen autark von der Industrie agiert, soll nicht nur, sondern muss hier einfach zugreifen. "The Octopus" dürfte für Amplifier das "Nevermind" oder "Dark Side Of The Moon" werden, an dem sie sich in Zukunft messen lassen müssen.
Das Rockjahr 2011 ist zwar noch jung, aber wer dieses Untier von Album toppen will, wird sich wirklich ganz enorm strecken müssen.
© Laut
Informationen zu dem Album
- 1 Disc(s) - 16 Track(s)
- Gesamte Laufzeit: 02:00:33
- Künstler: Amplifier
- Label: Rockosmos
- Genre: Pop/Rock Rock Progressive Rock
(C) 2017 Rockosmos (P) 2017 Rockosmos
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