Lady Saw
Nur wenigen Damen gelingt es, auf dem rauen, männerdominierten Dancehall-Parkett Fuß zu fassen. Sexismus regiert: Lady Saw erlebt ihn am eigenen Leib, bis sie sich entschließt, den Spieß umzudrehen und hemmungslos zurück zu schlagen: mit gleichen Mitteln und den Waffen einer Frau.
Als Marion Hall am 12. Juli 1972 in einem Vorort von St. Mary das Licht der Welt erblickt, deutet noch nichts darauf hin, dass ihre Stimme nicht nur die Grenzen des Ghettos sondern auch die ihrer Heimat Jamaika sprengen soll. Marion schlägt sich zunächst als Gemüseverkäuferin oder mit Hilfsarbeiten in einer Bekleidungs-Fabrik durch. "Ich hasste diesen Job", erinnert sie sich - und doch bildet er für sie so etwas wie ein Sprungbrett.
Schon in den frühen 80ern macht sie sich in ihrer Heimatstadt einen Namen als Sängerin. Als Kollegen ihr, die permanent bei der Arbeit singt, eines Tages das erste Geld dafür zustecken, reift in ihr ein Entschluss: Raus hier, und das Talent zum Beruf machen. Schnurstracks marschiert sie ins nächste Studio, bittet um eine Chance am Mikrofon und nimmt einige Tunes auf.
Doch die vollmundigen Versprechungen ihrer frühen Produzenten erweisen sich schnell als Luftschlösser. Wer es im Reggae- und dem jungen Dancehallgeschäft zu etwas bringen will, der muss in die Hauptstadt. Marion packt ihre Sachen und macht sich, motiviert von Freunden, und angetrieben von ihrem eigenen Dickkopf auf den Weg. In Kingston angekommen, arbeitet sie einige Zeit zusammen mit dem Romantics-Soundsystem. Unter anderem covert sie hier Chaka Khans "Sweet Thing".
Allerdings gehen aus diesem ersten Trip nur wenige Tunes hervor. Als Marion nach Hause zurück kehrt, hat sie zwar noch nicht die Hitsingle, dafür aber etwas anderes im Gepäck: In Anlehnung an den großen Tenor Saw, an dessen Gesang ihre Performance erinnert, bekommt das Mädchen aus St. Mary seinen Bühnennamen weg: Der Titel Lady Saw soll ihr erhalten bleiben.
Wieder in der Heimat angekommen, dauert es dann auch nicht lange, bis sie erneut auf einer Bühne steht. Bei einer Show des Stereo One-Soundsystems spielt Lady Saw ihre Trümpfe aus und erstreitet sich den Respekt von Kollegen und Publikum. Dieser Auftritt bringt Steine ins Rollen, und Lady Saw schneller als gedacht ein zweites Mal nach Kingston.
Hier nimmt sie für das Label Capricorn ihre ersten Single-Erfolge auf. Auf "Love Me Or Lef Me" folgen "Bogle Dance" und "Am I Losing You". Sämtliche Nummern landen sowohl in Jamaika als auch im fernen Großbritannien in den Top 10. Mit "If Him Lef" werden Lady Saws Texte zunehmend härter, anzüglicher oder, wie Kritiker beklagen, obszöner. Was ihren männlichen Kollegen recht ist, ist Lady Saw nur billig. Sie verleiht der auf den Dances den Guntalk ablösenden Slackness eine weibliche Perspektive, spricht Phantasien und sexuelle Wünsche unverblümt aus und gilt damit als Begründerin einer später oft kopierten Rude Gyal-Attitüde.
"Am Anfang habe ich Consciousness-Texte gesungen, und kein Mensch interessierte sich dafür", blickt Lady Saw zurück. "Dann hab' ich angefangen, härtere Lyrics zu verwenden. Ich dachte, ich mach' es, wie die Kerle." Zudem kommt der jungen Sängerin bei ihrem Einzug in eine Männerdomäne ihre Vielseitigkeit zugute: Sie interpretiert mit der gleichen Leidenschaft Lovers Rock-Tunes, Rap-Tracks und Country & Western-Songs.
Den Grundstein für Lady Saws Ruhm legen dann auch die expliziten Nummern. "If Him Lef", "Stab Out The Meat" und die Hymne für alle Ladys, ihre erste Nr. 1-Single "Find A Good Man", erscheinen sämtlich bei Diamond Rush und wecken das Interesse von VP Records. Hier nimmt man Lady Saw wenig später unter Vertrag und bringt 1994 mit "Lover Girl" ihr Longplayer-Debüt auf den Markt.
Anfang der 90er ist Lady Saw auf den ganz großen Bühnen, beim Sting, Sumsplash oder Reggae Sumfest vor bis zu 70.000 Zuschauern anzutreffen. Neben ihrem Dasein als Studio-Sängerin beweist sie sich hier als unverwüstliches Bühnentier, dem das Volk zu Füßen liegt. Ihre kontroversen Texte allerdings geben einigen Veranstaltern zu denken. Bei etlichen Shows wird sie deswegen wieder aus- oder gar nicht erst eingeladen. Preise hagelt es trotzdem: Seit 1993 dürfte sie so ziemlich jede Auszeichnung abgegriffen haben, die im Reggae-Sektor ausgeschrieben ist.
Lady Saw profiliert sich als nicht unumstrittene, wohl aber hochgradig gefragte Künstlerin. Sie schreibt und produziert, wenige Jahre später nennt sie die Firma Hall Productions ihr Eigen. Ihrer Beatschmiede entstammen unter anderem die Riddims Blindfold und Lock Jaw. Lady Saw nimmt für Shaggy, Sly & Robbie, Funkmaster Flex und Pharrell Williams auf, produziert für Spragga Benz, Sizzla, Bounty Killer, Beenie Man und Capleton, kollaboriert mit Sean Paul, Missy Elliott, UB 40, Eve, Lil Kim, Tanya Stephens (mit der sie sich zwischendurch öffentlich derbe in die Haare gerät), Gwen Stefani, Foxy Brown und zahllosen anderen.
Etliche Hit-Singles, Live-Shows und TV-Auftritte später hat sich Lady Saw als eine erstaunlich fixe Größe in einem schnelllebigen Geschäft etabliert. Nicht vielen Dancehall-Tunes wird die Ehre zuteil, wie ihr "Gimme A Reason" von einem Country-Sänger gecovert zu werden. Bis 1998 verzeichnet Lady Saw vier Alben und zwei Compilations in ihrer Diskographie.
Für die nächste eigene Veröffentlichung lässt sie sich dann allerdings Zeit. "Strip Tease" erscheint erst 2004, gefolgt von einer Live-DVD aus dem Jahre 2006. Unterdessen hat sich sich die Vollblut-Musikerin nicht etwa ausgeruht. Sie tritt weltweit auf. Ihre Zusammenarbeit mit No Doubt brachte diesen Anfang des Jahrtausends einen Grammy für "Underneath It All" ein.
Ihre Titel "First Lady" oder "Queen Of The Dancehall" und besonders "Mama Saw" trägt Marion Hall, die über die Jahre vom Dancehall-Pionier zur lebenden Reggaelegende aufsteigt, mit Stolz. Ihr Leben dient ihr stets als Inspirationsquelle für ihre Musik. Oftmals wird sie, die nach mehreren Fehlgeburten keine leiblichen Kinder hat, deswegen geschmäht. Für ihr 2007 erscheinendes Album "Walk Out", nach eigenen Abgaben das letzte für VP Records, schlägt die dreifache Adoptivmutter zurück und macht ihre Unfruchtbarkeit zum Thema: Mit "No Less Than A Woman" will sie Frauen in einer ähnlichen Situation Mut machen und gesteht gleichzeitig offen und emotional ihre Verletzlichkeit ein. Gewohnt aggressive Dancehall-Tunes fehlen allerdings auch hier nicht.
Ein weiteres Mal besteigt sie den Dancehall-Thron 2010, ohne sich vom Label VP dabei pushen zu lassen. Vielleicht kommt darin eine Art "Muscle Control" zum Ausdruck; so heißt einer der Songs. Auch das damals recht neue soziale Netzwerk "Facebook" macht sie zum Songthema. Unter den Gästen auf "My Way" erscheint Ding Dong, ein witziger Dancehall-Sänger mit Vorliebe für Funk- und House-Elemente. Wieder zurück bei VP, greift sich Lady Saw auf dem Cover ihres neunten Albums in den Schritt. Es geht nochmal um Tanzschritte ("Whine"), Körperliches ("Pretty Fingers") und Social Media ("Selfie"). Gegenüber der wilden Seite runden Estelle und Beres Hammond das Album in die sanfte Richtung ab.
Damit schließt Marion ihre Identität als Lady Saw ab (daher der CD-Titel "Alter Ego") und verwandelt sich zur kirchlichen Messdienerin: optisch, akustisch, namentlich. Minister Marion Hall heißt sie fortan und vermittelt die Botschaften, die sie von 'ganz oben' wahrnimmt: "When God Speaks". Grenzwertig dürfte sich der kommerzielle Nutzen gestalten; alte Hits wie "Heels On" wurden siebenstellig gestreamt, nun macht sie Gospel-Dancehall, wobei ein bisschen Doo Wop und Country einzufließen scheinen. Weltweit vierstellige Aufrufe, das kann man nur mehr als Nische bezeichnen. Dabei klingen solche Tracks wie "Cup Of Blessings", "Tun Back Christians" und "My God Is Alive" genauso tanzbar wie ihre Lady Saw-Songs, dazu die raue Stimme der Frau 'Minister'.
Ihren Schwenk zu den christlichen Textinhalten und der neuen 'Identität' scheinen aber selbst die Eingeweihten im innersten Circle des Reggae-Business nicht mitzubekommen. Ein erfahrener deutscher Festivalveranstalter, der Lady Saw selbst mehrmals gebucht hat, antwortet uns im Sommer 2018 in einem Interview auf die Frage nach dem geringen Frauenanteil in seinen Line-Ups, es gebe ja sehr wenige Frauen (so so, in diesem Artikel hier kommen bereits acht vor) - und: der Dancehall "der" jamaikanischen Frauen gefalle ihm persönlich nicht so. Als Beispiel nennt er eine Künstlerin, die er schon seit Jahren nicht mehr buchen kann: Lady Saw.
© Laut
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