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Gewalt

Manchmal scheint es, als hätten sich diese neuen deutschen Rockbands in den 2010ern vor allem für die lustigen Tourplakate erfunden. Wenn darauf nämlich "Karies - Pisse - Gewalt, 3.9." steht, bleibt sicher der ein oder andere auf der Straße stehen - oder erklickt das Event in den bekannten sozialen Medien. Zwischen Alte Sau und Fotzen Power Germany, Messer, Trümmer und Die Nerven ist in der Aufmerksamkeitsökonomie also ganz bestimmt noch Platz für Gewalt. Die Band Gewalt aus Berlin ist allerdings unter all den neuen Rockern und neualten Postpunkern ein Sonderfall, insofern dahinter Patrick Wagner steht. Also derjenige unter den Noise-Mathematikern der 1990er und 2000er Jahre, der mit Surrogat den deutschsprachigen Underground-"Rock" auf gleichnamigem Album schon im Jahr 2000 geprägt hat. Nach einer mehrjährigen Phase als Chef von Louisville Records (u.a. Kissogram, Jeans Team) folgt nach dessen Insolvenz die völlige Abstinenz vom Musikgeschäft. Ab 2015 versammelt Sänger/Gitarrist Wagner für Gewalt Gitarristin Helen Henfling und Bassistin Yelka Wehmeier um den Drumcomputer. Um im Prinzip weiterzumachen, wo Surrogat 2003 aufhörten - mit existenzialistischem, rohem Krach. Aufgenommen wird mit Kassettenrekorder. Der Ex-Tennisprofi und Begründer des Surrogat-Labels Kitty-Yo (Peaches) erklärt dazu im Spiegel: "Ich hab nach zwölf Jahren meinen Verstärker wieder angemacht, und als ich das Brummen gehört hab, bekam ich Gänsehaut und einen Schweißausbruch. Ich hab mich erinnert, was das für mich einmal war." Sagt's und veröffentlicht Proto-Noiserock-Tracks wie "So Soll Es Sein" oder "Szene Einer Ehe", die nicht nur klanglich an die frühen Mutter erinnern, sondern auch inhaltlich Depression, Rausch und Wut zelebrieren. Bei Gewalt wird gelitten statt geliebt, Isolation skizziert statt Party gemacht. Desillusionierte Zeilen wie "Ich rieche süßlich, nach Eiter und Pisse / Meine Hände vom Wühlen in Tonnen / Geschwollen, geschunden, sind einzige Risse" erzählen vom sozialen Abstieg in bittersten Worten. Mit Abstieg kennt sich Wagner schließlich aus: 2015 moderiert er die so genannten "FuckUp Nights", in denen Start Up-Unternehmer vom Scheitern berichten. Auch kommerziell verweigert sich das Trio Gewalt weitgehend den Konventionen. Ob eine LP erscheinen wird, ist Bandkopf Wagner nicht weiter wichtig. "Wir lieben einfach diesen Schalldruck und haben irgendwann festgestellt: Interessant, wir sind eine Band", sagt er. "Und wenn wir fünf Lieder nicht spielen können, gehen wir auf die Bühne." Ergo sind Dilettantismus und Katharsis bei Gewalt höchstgehaltene Werte. Alles andere kommt danach. Im Oktober 2018 gelingt PR-Auskenner Wagner ein ungeahnter Coup: Für die drei Deutschland-Konzerte von Jack White in Berlin, München und Dortmund mogelt er irgendwie seine maximalsperrige Band auf Platz eins der Auswahlliste. Die Verstörung beim großteils sehr erwachsenen und mit grauen Schläfen ausgestatteten Publikum ist dementsprechend. Die Band dürfte dies achselzuckend zur Kenntnis und die Gratispromo dankbar angenommen haben. Schließlich verkündete man im Hinblick auf die drei Konzerte schon vorab via Newsletter: "Gewalt ist nicht aus Viel und für viele Gemacht. Wir werden es nicht können. Es wird etwas Neues, etwas Entschlossenes, daraus entstehen. Wir werden daran scheitern. So geht große Kunst. Wir freuen uns darauf." Ende 2019 erscheint die 7"-Single "Deutsch". Thema ist der hässliche Deutsche. Macht auch Sinn, schließlich haben wir laut Sänger Patrick Wagner alle das gleiche Problem: "bei Geburt ein Arschloch." In dreieinhalb ordentlich böllernden, für Gewalt jedoch beinahe poppigen Minuten wird gnadenlos mit uns selbst abgerechnet. Das können nämlich nicht nur Rammstein. Das tolle Video verkörpert Großmannssucht, Schamlosigkeit, Ekel und Entgrenzung und der Wilson Gonzalez macht auch mit. Die Vinylsingle pressen sie in "scheiß, rot, gold". Etwas überraschend brechen sie mit ihrer 7"-Tradition: Ende 2021 erscheint das Longplay-Debüt "Paradies". Die Band war wohl einfach zu gut, um dem Album-Sektor als gut gehütetes Geheimnis fern zu bleiben.
© Laut

Diskografie

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