Fever Ray
Im Frühjahr 2007 bekommt Karin Dreijer Andersson, eine Hälfte der schwedischen Avantgarde-Pop-Duos The Knife, ihr zweites Kind. Schwanger steht sie noch im Herbst 2006 auf verhüllten Konzertbühnen, um "Silent Shout" - eines der eindrucksvollsten Electronica-Alben der Nuller Jahre - live aufzuführen. Doch anstatt nach der Geburt in postnatalem Mutterglück zu schwelgen, treiben Andersson finstere Gedanken um, wie sie in einem Interview berichtet:
"Nichts von dem, was einem dieses Schwangerschaftspersonal beim ersten Kind erzählt hat, ist wahr. Der ganze 'Die Hormone machen dich glücklich / Es ist so fantastisch, ein Kind zu bekommen'-Quatsch. Für mich war es ein Schock. Man ist monatelang in einem Zustand zwischen Leben und Tod. In Wahrheit ist es doch so, dass man nach der Geburt sechs Monate nicht schläft. Da kann man ja nur krank werden."
Also zieht es die erklärte Feministin schon Wochen nach der Geburt in ihr Studio südlich von Stockholm, wo sie ohne ihren musikalischen Partner Olof Dreijer eigenständig mit Software-Synthesizern und Drum-Computern an Songs zu arbeiten beginnt. Dort entsteht unter dem Konstrukt Fever Ray auch ein neues Selbstabbild von Dreijer Andersson, irgendwo zwischen dem wahren, ungeschminkten Ich, das mit einem Soloprojekt ja stets in Verbindung gebracht wird, und der audiovisuellen Maskerade eines weiblichen, heidnischen Waldschrats.
Düster, ja fast gespenstisch und im Vergleich zu The Knife auf das Elementarste heruntergekürzt wirken die zehn entschleunigten Songs des selbstbetitelten Albums "Fever Ray", das im Frühjahr 2009 erscheint und von der Musikpresse anfangs noch relativ reserviert besprochen wird. Erst mit etwas Abstand und wohl intensiverem Hören taucht "Fever Ray" in nahezu allen wichtigen Jahrescharts auf. "Schauderhaft schön", schreibt man bei Spiegel Online über eine der "wichtigsten CDs des Jahres".
Fast scheint es als hätte Fever Ray bereits vorab einen Soundtrack für Lars von Triers ebenfalls 2009 angelaufenen Skandalfilm "Antichrist" komponiert, so intensiv und physisch wie hier menschliche Angstzustände und die Gewalt der Natur verhandelt werden. Es ist einerseits der Dubstep-Soundwald aus schleppend pochenden Synthesizer, verhuschten Samples und einer minimalen Anlehnung an künstlichen 80er-Pop, die derlei Assoziationen aufkommen lässt.
Mehr noch hat es allerdings mit Fever Rays verfremdeter Hexen-Stimme und der Ästhetik von Fever Ray als rabenschwarzes Gesamtkunstwerk zu tun. Die insgesamt fünf Singles des Albums werden unter anderem von Bands und Djs wie den Fuck Buttons, CSS, Crookers oder Tiga geremixt. Wer sich diese alternativen, meist ungelenkt auf Clubsound getrimmten Versionen anhört, weiß um so mehr, zu welch originären und mysteriösen Pop-Entwürfen Fever Ray imstande ist.
Im Herbst 2017 meldet sich Fever Ray überraschend mit der Single "To The Moon And Back" zurück und einem dazugehörigen Video, das Karin Dreijer Andersson von einer ungewohnt provokanten Seite zeigt. Kurz darauf erscheint das zweite Album "Plunge" im Netz. Produzenten und Produzentinnen wie Paula Temple, Deena Abdelwahed, Nídia, Tami T, Peder Mannerfelt und Johannes Berglund sorgen für eine neue, härtere Soundästhetik.
Die behält Dreijer, mittlerweile zweifache Mutter, queer, geschieden und genderfluid, 2023 auch auf dem Nachfolger "Radical Romantics" bei. Jedoch findet Fever Ray dabei wieder zur Mysteriosität des Debüts zurück. An der Platte haben sich neben alten Bekannten wie Nídia oder Peder Mannerfelt auch Bruder Olof sowie das grammyprämierte Erfolgsduo Trent Reznor/Atticus Ross beteiligt.
© Laut
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