Lost & Found

Albumbeschreibung

Wer dem mehrfach ausgezeichneten schottischen Gitarristen Sean Shibe seit seinem von der Kritik gefeierten Debütalbum Dreams and Fancies aus dem Jahr 2017 folgt, weiß, dass man von ihm nur Unerwartetes erwarten kann – die chamäleon-artige Leichtigkeit, mit der er zwischen musikalischen Stilepochen sowie akustischen und elektrischen Instrumenten hin- und herwechselt und seine einfallsreiche Programmierung haben ihm 2019 für softLOUD die erste Gramophone-Auszeichnung "Konzeptalbum des Jahres" beschert.

Lost and Found entspricht genau diesem Ansatz. Das Konzept ist eine von William Blake inspirierte "ekstatische Reise mit Musik von Außenseitern, Mystikern und Visionären, oft mit mehreren Identitäten, die sich verschiedenen künstlerischen Traditionen, Genres oder Publikumsgruppen zuordnen lassen". Auf seinem ersten rein elektronischen Album greift Shibe auf die Musik von Hildegard von Bingen, der vielseitigen Komponistin aus dem 12. Jahrhundert, sowie von Meredith Monk, Chick Corea, Daniel Kidane und Oliver Leith zurück – wobei von Bingen und Monk in Shibes eigenen Arrangements zu hören sind. Die Stimmung ist ekstatisch-mystisch, die Zeit hält in Träumen an und das Ohr wird zugleich gestreichelt und herausgefordert. Wenn Sie sich mit dem Kauf eines Tonträgers beeilen, können Sie noch die erste Auflage mit einer exklusiven Polaroid von Shibe bei den Aufnahmesessions als einer zusätzlichen kreativen Note erhalten.

Die obige Beschreibung dürfen Sie durchaus als Lob eines Kritikers verstehen. Ich bin begeistert und fasziniert, wenn ich höre, wie erfolgreich Messiaens Motette O Sacrum convivium! aus dem Jahr 1937 hier in eine schwebende, luftige, sanft ekstatische Neuschöpfung verwandelt wird, völlig im Einklang mit der ursprünglichen Absicht des Werkes, theologische Geheimnisse zu feiern und die durchschnittliche Kirchengemeinde musikalisch zu verwirren.

Venus/Zohreh des britisch-iranischen Komponisten Shiva Feshareki wirkt wie eine natürliche Fortsetzung dazu. Es wurde 2018 für das Ligeti Quartett komponiert und beschreibt eine kosmische Klangreise mit einem enormen Crescendo, bei dem sich die Schwingungen einer Saite allmählich auf alle anderen ausbreiten, während das Tempo scheinbar anzieht und die Texturen sich infolge der sich zunehmend überlagernden Schwingungen verdichten. Die Intensität und Souveränität, die Shibe bei dieser Weltersteinspielung seines und Fesharekis neuen Gitarrenarrangements an den Tag legt, sind überwältigend. Und dann sind da noch die glasklare, von Stille durchsetzte Wehmut in Kidanes zweiminütigem Continuance, das er 2020 als spontane Reaktion auf den Lockdown für Shibe schrieb, sowie dessen betörendes dunkles und kraftvolles Bass-Grollen in Coreas Children's Song 4, das uns wunderbar auf das folgende Sea Horse von Moondog einstimmt.

Es wäre ein Fehler, wenn Sie sich nur die von mir herausgehobenen Titel anhören. Das Programm baut so klar aufeinander auf und ist dazu gedacht, in seiner Gesamtheit erlebt zu werden, dass Sie etwas Wichtiges verpassen, wenn Sie das nicht tun. © Charlotte Gardner/Qobuz