Ein Gespräch mit Christian Thielemann über die Mysterien nicht nur der vertrauten neun, sondern auch der beiden frühen “nullten” Sinfonien

Alle elf Sinfonien von Anton Bruckner hat der Dirigent Christian Thielemann mit den Wiener Philharmonikern aufgenommen, eine CD-Box hat Sony jetzt herausgebracht. Zum ersten Mal in seiner Geschichte interpretiert das Orchester sämtliche Bruckner-Sinfonien mit einem einzigen Dirigenten. Doch halt, warum elf und nicht neun?

Bei einer bereits hin und wieder aufgeführten “Nullten” handelt es sich um eine “annullierte” zweite Sinfonie, die Bruckner als “ungiltig” (sic) bezeichnet hat. Und dann ist noch eine weitgehend unbekannte ganz frühe “Studiensymphonie” aufgetaucht. Thielemann hat die beiden Werke zusätzlich zu den vertrauten neun Sinfonien eingespielt, insgesamt sind also tatsächlich elf in der Box. Außer den Compact Discs von Sony ist unter dem Titel “Bruckner 11″ bei dem Label Unitel Edition eine Box mit fünf Blue-rays erschienen, die die Aufführungen der Sinfonien als Video enthält und zusätzlich zu jedem Werk als “Bonus” einen Dialog zwischen Johannes-Leopold Mayer von den Wiener Philharmonikern und Thielemann.

Die mustergültige Aufnahme der beiden “Nullten” mit den Wienern ist eine Pioniertat. Reizvoll ist der Vergleich mit einer Gesamtaufnahme der Bruckner-Sinfonien, die Thielemann – noch ohne die “Nullten” – mit der Dresdner Staatskapelle bereits 2009 erarbeitet hat. Die jüngste Interpretation mit den Wiener Philharmonikern kann als eine Art Opus summum seiner Bruckner-Deutung gelten. Im Gespräch mit dem FONO FORUM beschreibt er den Weg dorthin keineswegs als triumphale Erfolgsserie, er zeigt sich vielmehr als selbstkritischer Musiker, der mit seinen frühen Bruckner-Dirigaten keineswegs zufrieden war. Die Aufnahmen entstanden laut Booklet zwischen April 2019 und Juli 2022 bei Konzerten im Wiener Musikvereinssaal und im Großen Festspielhaus Salzburg, teilweise unter Corona-Bedingungen zwar “live”, aber ohne Publikum.

Was treibt Sie an, immer wieder aufs Neue die Bruckner-Klangräume zu erkunden?

Ich habe früh angefangen mit Bruckner und habe immer wieder festgestellt, wie weit ich entfernt war von dem, was die älteren Kollegen boten, mit ihrer überlegenen Disposition. Mitte dreißig habe ich das nicht gekonnt, das war damals nicht meine Stärke. Durch die langen Formen bei den Wagner-Opern habe ich bei den kürzeren Bruckner-Sinfonien bemerkt, du musst das alles ganz anders disponieren und deswegen Bruckner öfter dirigieren.

Sie haben die Bruckner-Sinfonien inzwischen schon sehr oft dirigiert.

Nein, nein, manche gar nicht so oft. Die Neunte habe ich zum Beispiel am wenigsten dirigiert von allen, auch die ersten drei gar nicht so oft, die “Nuller” sowieso nur einmal mit den Wienern jetzt, die eins, zwei und drei auch nicht so häufig. Karajan hat immer zu den jungen Dirigenten gesagt: “Die ersten 20 Mal, die man ein Stück dirigiert, das kann man vergessen.” Ich habe meine eigenen Unzulänglichkeiten bemerkt und festgestellt, dass ich immer wieder Bruckner aufführen muss, aber in Abständen. Ich habe mir über die Jahre und Jahrzehnte eine Menge Zeit damit gelassen.

Welches war Ihr Bruckner-Erweckungserlebnis?

Ich kann mich an drei Bruckner-Aufführungen erinnern, die mich besonders beeindruckt haben, ich war damals noch auf der Schule. Das war zum einen die Fünfte, nach der man fast betrunken über den Parkplatz getaumelt ist nach dem Choral. Dann habe ich auch die Achte und Neunte mit Karajan gehört, als er sehr krank war und bevor er operiert wurde. Da herrschte eine sehr merkwürdige Abschiedsstimmung. Nach der Achten und Neunten von Bruckner war Totenstille im Zuschauerraum. Das hatte ich bis dahin nicht erlebt.

Wie waren Ihre ersten Schritte als Bruckner-Dirigent?

Es sieht jetzt so aus, als hätte ich immer nur Bruckner, Bruckner, Bruckner gemacht, aber das stimmt nicht, ich habe sehr viele andere Werke dirigiert. Die erste Bruckner-Sinfonie, die ich dirigiert habe, war die Vierte, in Italien am Teatro Regio in Turin, mit einem italienischen Orchester. Da hieß es: “È un mattone”, das ist ein Ziegelstein. Die Italiener sind nicht unbedingt zu Bruckner so affin wie wir, sie fanden das etwa mit den Tremoli sehr speziell. Ich war damals Anfang 20 und mit mir furchtbar unzufrieden. Alle fanden es gut, ich nicht, ich war sehr selbstkritisch.

Wie kam es dazu, dass Sie mit gleich zwei so renommierten Orchestern wie den Wiener Philharmonikern und der Dresdner Staatskapelle sämtliche Bruckner-Sinfonien aufgenommen haben?

Ich habe Glück gehabt, dass die Wiener auf mich zukamen und mit mir Bruckner machen wollten. Bei den Dresdnern habe ich meine Position [als Chefdirigent] mit der Achten von Bruckner begonnen. In den ersten Jahren haben wir zu jeder Spielzeit-Eröffnung eine Bruckner-Sinfonie gespielt, aus guter Tradition.

Was unterscheidet die beiden Gesamtaufnahmen?

Zuerst einmal liegen 15 Jahre dazwischen, und dann sind es zwei Orchester, die zwar beide sehr Bruckner-erfahren, aber doch klar unterschiedlich sind. Die Wiener haben in ihrer langen, langen Geschichte interessanterweise nie mit einem Dirigenten alle Bruckner-Sinfonien aufgeführt. Sie haben aber die landläufigen Bruckner-Sinfonien mit allen berühmten Alt-Dirigenten gespielt. Die Dresdner nicht, sie haben auch eine Menge Bruckner aufgeführt, aber längst nicht so viel.

Wie haben Sie die beiden Orchester mit Bruckner erlebt?

Wenn Sie beide Aufnahmen miteinander vergleichen, werden Sie sehen, dass es Unterschiede bei den Tempi gibt. Ich glaube, ich bin bei den Wienern flüssiger gewesen, überhaupt bin ich generell bei meinen Tempi flüssiger geworden. Ich denke auch, dass ich immer etwas langsam gewesen bin. Die Wiener sind ein “katholisches” Orchester. Sie neigen zu Exaltiertheit, zu Pomp und zum Hochamt. Die Dresdner sind ein “protestantisches” Orchester. Sie sind etwas zurückhaltender, auch im Vibrato-Einsatz, sie sind vorsichtiger. Beiden Orchestern ist aber eines gemeinsam: Sie haben einen irrsinnig schönen homogenen Klang und einen traumhaften Streicherklang. Die Unterschiede sind graduell, so viele sind es letztlich gar nicht. Deshalb sind es auch meine liebsten Orchester. Die Wiener hatten natürlich viel mehr Erfahrung etwa bei der Achten. Mit den Dresdnern war das wie eine richtige Entdeckungsreise.

Wieviel Bruckner-Ur-Erfahrung steckt noch in den Wienern, die waren ja d a s Bruckner-Uraufführungsorchester?

Die haben es mit der Muttermilch aufgesogen. Bei Bruckner kommen “österreichisch” klingende Elemente vor, wie etwa Ländler, mit denen die Musiker aufgewachsen sind. Deshalb spielen sie auch die Walzer so unglaublich idiomatisch. Und da ist eben der homogene Klang. Die Stücke funktio­nieren nicht, wenn man den Klang schärft. Bei einer Bruckner-Sinfonie klingt das Orchester wie eine Orgel.

Was beeindruckt Sie an den beiden “Annullierten”?

Das ist irre. Die beiden langsamen Sätze sind richtig brucknerisch, das Beste sind die beiden Scherzi, die richtige, wahre Bruckner-Scherzi sind. Die Ecksätze atmen Marschner, Weber, ­Beethoven, Cherubini – aber so spannend! Wenn Sie etwa den Anfang der “Stu­diensymphonie” in f-Moll hören, dann würden Sie sagen: Ich bin ratlos. Da ist dann auch ein bisschen Schumann drin, und dann gibt es harmonische Wendungen, bei denen Sie feststellen: Mensch, das klingt ja wie Bruckner.

Die “Studiensymphonie” wirkt fast heiter und lebensfroh.

Ja, er hat sie in Linz unter sehr günstigen Umständen geschrieben.

Und was ist mit der “Nullten”?

Die “Nullte” ist in Wirklichkeit eine annullierte Zweite. Bruckner hat die Partitur bis zu seinem Tod im Schreibtisch aufbewahrt und die Absicht geäußert, sie noch mal zu überarbeiten. Dazu ist es aber nicht gekommen.

Wie gehen Sie mit dem Wirrwarr der verschiedenen Fassungen bei manchen Bruckner-Sinfonien um?

Corona hat einige Folgen gehabt, die ganz erstaunlich waren. Die Wiener Philharmoniker riefen mich an und sagten, ob ich nicht Bruckner aufnehmen könnte. Das habe ich liebend gern gemacht, weil in Dresden aus verschiedenen Gründen nichts möglich war. Dann habe ich mir gedacht, bevor du nur die Partituren studierst, liest du dich da mal ein. Eingedeckt mit Partituren und Material, habe mich so richtig musikologisch betätigt und festgestellt: Ach Gott, die Vierte hat ja sieben Fassungen …

Sie haben sich dann jeweils pragmatisch für eine bestimmte Fassung entschieden?

Ja, nach Gefühl. Bei der Auswahl habe ich festgestellt, dass es einen Königsweg nicht gibt. Mit den Vorständen der Orchester habe ich das immer diskutiert. Die ersten Fassungen sind nicht immer die besten. Es gibt leider Fälle, in denen die ersten Fassungen auf Druck durch andere schwer verändert wurden. Oft hat Bruckner aber aus eigenem Antrieb die Urfassungen noch einmal überarbeitet. Zu der Vierten hat er einen anderen vierten Satz geschrieben und den lustigerweise als eine Art Kehraus “Volksfest” betitelt. Den wollten wir aufnehmen, aber das hat die Zeit nicht mehr erlaubt. Da wird man sicher noch einmal nachlegen, als Addendum.

Von manchen Sinfonien haben Sie verschiedene Fassungen aufgeführt, etwa von der Ersten.

Nach der Linzer Fassung der ersten Sinfonie hat Bruckner die Wiener Fassung ziemlich spät erstellt, nachdem er die Achte komponiert hatte. Er hat ein ganz anderes Ende geschrieben. Nachdem ich die Linzer Fassung mit der Dresdner Staatskapelle aufgeführt hatte, habe ich mir die Wiener Fassung angesehen und fand sie so toll, dass ich sie mit den Wienern aufgenommen habe.

Wie wirkt sich Ihre immense Wagner-Erfahrung auf Ihre Bruckner-Deutung aus?

Bei Wagner muss ich über den ganzen “Ring” disponieren. Und dann stelle ich fest, so eine Bruckner-Achte ist ein kleiner “Ring” oder eine kleine “Götterdämmerung”. Steigerungen müssen genau angesteuert werden, es muss geplant und trotzdem spontan sein. Das ist bei der Oper genauso. Wenn Sie sich beim “Ring” im “Rheingold” verbrennen, haben Sie keine Steigerung mehr in der “Walküre”, in “Siegfried” und “Götterdämmerung”. Bei der Bruckner-Sinfonie ist das genauso. Wenn Sie bei einer schlechten Interpretation am Anfang alles umschmeißen, im ersten Satz falsch spielen und ein Riesen-Getöse entfachen, dann sind die Leute halb taub hinterher, und was soll dann danach noch kommen?

Auch jenseits von Bruckner hat Thielemann ein volles Programm. Zum zweiten Mal (nach 2019) wird er das Wiener Neujahrskonzert 2024 dirigieren, außerdem will er sich mit den Wiener Philharmonikern Brahms, Schumann, dem späten Beethoven und Schönberg widmen. Auch der Oper bleibt er treu. Im Januar 2024 steht er in Dresden bei Richard Wagners “Tristan” und im März bei “Frau ohne Schatten” von Richard Strauss am Pult.

Nach dieser Spielzeit endet Thielemanns Engagement als Chefdirigent. Ob er über kurz oder lang wieder eine feste Position übernimmt, lässt er offen. Arbeitslos wird er nicht. “Ich habe viele Angebote”, gesteht er dem FONO FORUM. Einen kompletten Bruckner-Zyklus werde er wohl nicht mehr dirigieren, wohl aber weiterhin einzelne Bruckner-Sinfonien.

*Beitrag aus dem Fono Forum/November 2023. Das monatlich erscheinende Magazin Fono Forum bietet mit seinen Rezensionen, Artikeln und Interviews einen umfassenden Blick über die neuesten Plattenerscheinungen sowie das Musikgeschehen der Genres Klassik und Jazz.