Haben Sie sich schon einmal gefragt, seit wann man sich “weiße Weihnachten” wünscht? Grund für diese romantische Vorstellung rund um das schönste Fest des Jahres ist ein Song, der Kulturgeschichte geschrieben hat. Irving Berlins ‘White Christmas’ in der Interpretation von Bing Crosby wurde nicht nur über 125. Mio. Mal verkauft. Es ist der Beginn des idealisierten Weihnachtsfests zu einer Zeit, in der die Welt nach Hoffnung und Heimatgefühl lechzte.

Wie ein Songschreiber, der keine Noten schreiben konnte und nur Töne auf den schwarzen Tasten eines speziell angefertigten Klaviers spielte (also alles in Fis!) einen Welthit landete? Nicht ohne seine rechte Hand, Helmy Kresa. Irving Berlin, der gestandene 101 Jahre alt wurde, zählte neben Cole Porter und den Gershwin-Brüdern zu den bekanntesten Songschreibern der New Yorker Tin Pan Alley. Bevor er den erfolgreichsten Song der Geschichte schreiben sollte, verzeichnete er bereits große Erfolge mit Cheek to Cheek, God bless America, Puttin’ on the Ritz oder There’s no business like show business… Er galt als nervös und unerbittlich, als umherwirbelndes Künstlergenie, das nur wenige Stunden schlief und sich täglich einen neuen Song ausdachte, den er von seinem Assistenten Kresa niederschreiben und zu echten Hits arrangieren ließ.

Wie es in Jody Rosens White Christmas. Ein Song erobert die Welt. (Karl Blessing Verlag, 2003) heißt, rannte Berlin am Morgen des 8. Januars 1940 mit größter Aufregung in sein Büro und verlangte nach Kresa: Er wollte ihm “den besten Song, der je geschrieben wurde”, diktieren!

Weihnachten war für die Berlins ein Graus, den sie für ihre beiden anderen Kinder in ein perfektes Fest verpackten, mit einem Tannenbaum, der bis zur Decke ragte.

White Christmas, gar nicht so kitschig wie es klingt.

So ganz über Nacht ist White Christmas wohl doch nicht entstanden, denn es bestehen zahlreiche Mutmaßungen über seine wahre Entstehungsgeschichte. 1937 verbrachte Irving Berlin Weihnachten zum ersten Mal ohne seine Familie in Hollywood (was ihm als eingefleischter New Yorker besonders missfiel). Doch die eigentliche Traurigkeit über ein Weihnachten ohne seine Familie lag darin, dass er in diesem Jahr nicht, wie es Tradition hatte, zum Friedhof gehen würde. Denn hier lag seit 1928 sein kleiner Sohn, der am 24. Dezember im Alter von nur 24 Tagen verstorben war.

Irving Berlin
Irving Berlin © Getty Images

Weihnachten war für die Berlins ein Graus, den sie für ihre beiden anderen Kinder in ein perfektes Fest verpackten, mit einem Tannenbaum, der bis zur Decke ragte. Was Berlin ebenfalls mit dem schönsten Fest des Jahres in Verbindung brachte: das antisemitische Reichspogrom in seiner kleinen Heimatstadt in Sibirien, das sein Haus in Flammen aufgehen ließ und seine jüdische Familie für immer vertreiben sollte.

White Christmas, eine Satire?

Wer einmal auf die Version von Mel Tormés White Christmas gestoßen ist (oder Barbara Streisand in unserer Plalyist!), mag vielleicht gehört haben, dass sich hier einige Intro-Zeilen eingeschlichen haben, die in nur wenigen der über 423 bei der ASCAP verzeichneten Coverversionen vorkommen und in der der Original Decca-Aufnahme von Bing Crosby fehlen:

The orange and palm trees sway/There’s newer been such a day/ In Beverly Hills, L.A./But it’s December the twenty-fourth/And I’m going to be up north. (Die Orangen- und Palmenbäume wiegen sich/ So einen Tag gab es noch nie/ In Beverly Hills, L.A./ Aber es ist der vierundzwanzigste Dezember/ Und ich werde im Norden sein).

Ursprünglich hatte sich Berlin hier einen Spaß im Intro erlaubt, als er an einer seiner traditionellen Bühnenshows (The Crystal Ball) arbeitete und karikierend den typischen, deprimierten New Yorker in der Sonne Hollywoods beschreibt, wo doch Weihnachten ist und dieser eigentlich nur von weißen Weihnachten träumt (I’m dreaming of a white christmas). Der Song schwebte ihm also schon früher vor. Doch dieser sollte erst zu White Christmas werden, als er sich von den Traditionen der Tin Pan Alley mit dem gestrichenen Intro entfernte und sich mit dem Hollywood-Regisseur Mark Sandrich zusammensetzte. Gemeinsam arbeiteten sie das Skript zum Film Holiday Inn (Musik, Musik mit Bing Crosby, Fred Astaire und Marjorie Reynolds in den Hauptrollen) aus, für den schon ein Titel bereitstand: White Christmas.

Die Stimme von White Christmas

Bing Crosby: Die Stimme der Weihnachtszeit.

Gleich zweimal sollte White Christmas in einem der ersten Weihnachtsklassiker Holiday Inn vorkommen, der bisher an den einzig existierenden Weihnachtsfilm (die Dickensche Verfilmung von Eine Weihnachtsgeschichte) anknüpfte. Es fehlte nur noch der richtige Crooner, einer der angesagtesten Interpreten (wenn nicht der erste Sänger überhaupt, der das Augenmerk von den damaligen Songschreibern weg lenkte). Der nette amerikanische Schlagersänger von nebenan, der unter Exklusivvertrag mit Decca stand, sollte zur Stimme der Weihnachtszeit werden.

Seine schmachtende Art und Weise, diesen Song zu performen, bot genau die gewisse Dosis an Sentimentalität, die Berlin in seiner Komposition vorgesehen hatte. Die Naturbilder der verschneiten Landschaft und der nostalgischen Kindheitserinnerungen werden dank Crosbys Stimme genau an den richtigen Stellen hervorgehoben. Die kurze Chromatik zwischen “I’m dreaming of a WHITE CHRISTMAS” liefert einen gewissen Twist bis er schließlich bei “May your days be merry and bright” auf dem Wort “bright” die längste Note des Songs singt - ein wahrer Funke Hoffnung.

Nach den Dreharbeiten am 29. Mai 1942 nahm Crosby gemeinsam mit dem John Trotter Orchestra und den Darby Singers White Christmas in den Decca Studios in Los Angeles auf. Wer hätte gedacht, dass er 1947 erneut ins Studio einziehen sollte, da die Tonträger vor lauter Hören abgenutzt waren? Am 21. November erschien White Christmas auf dem Spitzenplatz der Billboard-Charts und Bing Crosby zog sogar als erster weißer Künstler in die Harlem-Hitparade von Billboard ein. Wie konnte sich ein so schlichter Song gleich elf Wochen lang auf Platz 1 halten, ein Jahr später den Oscar für den besten Filmsong gewinnen, in das Guinnessbuch der Rekorde einziehen und sogar Rassenbarrieren überwinden?

Eine neue Art der Kriegshymne

Es war nicht nur Bing Crosbys Popularität, ein neuer Publikumsgeschmack und ein verstärktes Konsumverhalten, die sich hinter dem Erfolgsrezept verbargen. Irving Berlin hatte selbst den Gipfel seiner Bekanntheit erlangt und wurde zum amerikanischen Patriot schlechthin. Als Bing Crosby White Christmas zum allerersten Mal 1941 in der NBC-Radioshow The Kraft Music Hall sang, waren gerade einmal 17 Tage nach dem Angriff auf Pearl Harbor vergangen. Wohl kaum beschäftigte sich in diesen Tagen jemand mit dem Musikgeschehen.

Irving Berlin und Bin Crosby
Irving Berlin und Bing Crosby, New York, 1950. © Irving Haberman/IH Images/Getty Images

Berlin meldete sich freiwillig zum Wehrdienst und stellte eine für die Kriegssoldaten maßgeschneiderte Revue zusammen. Mit This is the Army zog er mit einer Schauspielgruppe aus Soldaten durch Amerika und um die halbe Welt. Einen Monat nach dem Debüt fand die Premiere von Holiday Inn (Musik, Musik) statt, die er zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung für den Hilfsfond der US-Marine machte. Für White Christmas interessierte sich im Film bis zum September 1942 übrigens keiner. Berlin bangte darum, dass sich bis Weihnachten alle an dem Song sattgehört haben mussten…

Aber das Bedürfnis nach Heimat und Geborgenheit seit dem amerikanischen Kriegseintritt wuchs rasant. Songs zum Thema Krieg wurden veröffentlicht, als gäbe es kein Morgen. Sie beschworen allerdings nur die Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg herauf. Die von ihren Familien entrissenen Soldaten wünschten sich Songs für die Seele wie White Christmas!

Radiosender stellten sich von ihren Live-Shows auf Schallplatten um, da die Mobilmachung den Tanzkapellen ihre Musiker raubte. Bing Crosby dröhnte nun aus allen Jukeboxes des Landes und immer mehr Soldaten bekamen Care-Pakete mit der Decca-Platte geschickt, sodass sich die Nachfrage sogar auf die Charts auswirkte. Die Wehmut und Sentimentalität, das Bedürfnis nach einem perfekten Weihnachtsabend Zuhause mit der Familie, an dem es schneit, traf auf das Heimwehgefühl vieler Amerikaner. Eine Kriegshymne war nun nicht mehr nötig.

Aus White Christmas wurde Weiße Weihnacht.

White Christmas machte vor allem eins deutlich: Eine Nation, die Krieg gegen einen faschistischen Feind führte, brauchte kein religiöses Weihnachtslied, sondern demonstrierte ihre Einheit im Gefühl ihrer amerikanischen weihnachtlichen Welt. Laut Rosen schrieb Irving Berlin also eine Weihnachtshymne, die alle christlichen Ursprünge dieses Fests begrub und sich wunderbar in eine Zeit fügte, die von einer familiären, emotionalen und vom Konsum geprägten Feiertagskultur definiert wurde. Ohne jegliches unternehmerisches Kalkül hatte Berlin seinen Teil der Unterhaltungskultur beigetragen, die in den 1930ern das typische amerikanische Weihnachtsfest definierte.

Vor diesem Hintergrund scheint es also nicht verwunderlich, dass die deutsche Version - Weiße Weihnacht - keine simple Übersetzung war. Der Text- und Schlagerdichter Bruno Balz brachte 1958 für das deutsche Schlagerpublikum die Engel und Glocken wieder in den Song. Aus “I’m dreaming of a white christmas” wurde: “Süß, singt der Engelchor, Weihnacht!”

Jody Rosen hätte es kaum besser zusammenfassen können: “Das beliebteste Weihnachtslied der Welt ist also keine Ode an die Freude oder an Schneemänner oder an den Weihnachtsmann. Sondern eine deprimierende Klage um verlorenes Glück, also - wenn auch nicht der Form, so doch dem Geiste nach - ein Blues.”

White Christmas mag für unsere Ohren wie purer Weihnachtskitsch klingen. Doch seine Schwere und Traurigkeit könnten die Weihnachtszeit kaum besser widerspiegeln: Schließlich ist kein Fest so von Sentimentalität, Freude, Liebe und Weltschmerz zugleich geprägt. Und in dieser Ehrlichkeit liegt wohl der wahre Zauber von White Christmas. Es sei noch am Rande bemerkt, dass es am Weihnachtsmorgen 1942 in Detroit tatsächlich schneite…