Was veranlasst Gustav Mahler im Jahre 1907/08 dazu, ein Werk zu schreiben, dass vollkommen aus der Reihe zu tanzen scheint? Das Lied von der Erde nimmt eine einmalige Rolle im Schaffen des Komponisten ein und verbindet die aufkommende Faszination eines Exotismus, Mahlers persönliches “Schicksalsjahr” sowie den Zeitgeist des Fin-de-siècle. Eine turbulente Epoche in Wien und ein Stück zwischen Abschied und Aufbruch, welches nur dazu ruft, genauer betrachtet zu werden…

Das Wien des Fin de Siècle

Wien um 1900: Die Stadt steht in einem gesellschaftlichen und kulturellen Umbruch, wie es ihn zuvor noch nicht gegeben hat. Der Wandel von der Spätromantik hin zur Moderne und Avantgarde des angehenden 20. Jahrhunderts - auch bekannt als Fin de Siècle - zog nicht nur eine Veränderung traditioneller Strukturen mit sich, sondern förderte auch einen immensen kulturellen und künstlerischen Austausch. Die Folgen der Industrialisierung sowie technischen Neuerungen ermöglichten eine neue Kultur des Reisens, innerhalb und außerhalb Europas, wobei ein großes Interesse an einer fernen Welt und eine neuartige Ostasienrezeption bzw. die allgemeine Faszination eines Exotismus aufkam. Und während auf der einen Seite neue Subkulturen und Ideen entstehen, kann gleichzeitig ein derartiger Umbruch auch Merkmale wie Unsicherheit, Instabilität sowie eine “kollektive Einsamkeit” hervorrufen. Eine Strömung in Kunst, Literatur und Musik zwischen Aufbruch und Abschied - mit Gustav Mahler mittendrin.

Ein zentraler Teil Mahlers Schaffensphase fällt genau auf jene Zeit des Fin de Siécle in Wien. Der Komponist, der 1860 in Kalischt (Böhmen) geboren wurde und in Iglau (Mähren) aufwuchs, zog mit 15 Jahren in die österreich-ungarische Hauptstadt, um sein musikalisches Talent zu fördern sowie später Klavier und Komposition zu studieren. Nachdem er einige Jahre lang als Dirigent in anderen Städten wie Budapest und Hamburg tätig war, kehrte Mahler schließlich 1897 nach Wien zurück, um die hochangesehene Stelle als Operndirektor des Wiener Opernhauses anzutreten - eine Art Mini-Skandal, wenn man bedenkt, dass Mahlers jüdische Wurzeln dem Publkim des immer stärker antisemtisch und nationalistisch geprägten Wien ein Dorn im Auge waren.

Mahlers kulturelle und nationale Identität - als deutschsprachig-gebürtiger Mäher jüdischer Abstammung, der nun im aufbrausenden Wien lebt - ist demnach mehr als ambig. So sagt er selbst in einem berühmten Zitat: “Ich bin dreifach heimatlos; als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen, und als Jude unter der ganzen Welt.”

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