Hard Bop oder Hip-Hop, free oder groovy, Electronic oder Calypso, experimentell oder karibisch - die aktuelle britische Jazzszene strotzt nur so von Abenteurern, die ihre Ohren weit geöffnet haben, Musiker, die die Klassiker des Genres beherrschen und sie in verschiedene Terrains überführen. Hier sind 10 Alben, die diese neue Welle symbolisieren.

Compilation – We Out Here

Und weiter geht’s: London Calling! Aber dieses Mal kommt der Anruf nicht aus den ausgehungerten Leibern des Rock, sondern eher aus denen des Jazz. Dieser Jazz kann einzig und allein nunmehr im Plural verstanden werden, dermaßen dichtgedrängt ist hier auf diesem We Out Here die junge Londoner Szene, die sich aus allen möglichen Stilrichtungen, sowohl aus Soul als auch Afrobeat, Fusion oder Elektro herausgebildet hat. Um diese neue Generation genauer in Augenschein zu nehmen, hat Brownswood Recordings, das Label von Gilles Peterson, die künstlerische Leitung des Albums demjenigen anvertraut, von dem in den Medien am meisten die Rede ist: dem Saxofonisten Shabaka Hutchings. Die auserkorenen Musiker und Gruppen arbeiten drei Tage lang im Studio schufen in dieser Zeit eine vollkommen neue Vision des Jazz.Der Schlagzeuger Jake Long und seine Band Maisha spielen nun die Voodoo-Zeremonienmeister wie ein Pharoah SandersFelas Afrobeat nährt das Ezra Collective des Schlagzeugers Femi Koleoso, aber auch das Kollektiv Kokoroko. Wogegen ein anderer hervorragender Schlagzeuger, der charismatische Moses Boyd seine Rhythmen mit einem kunstvoll hypnotischen Elektroloop umgibt, bevor er wieder zu einem belebenden, libertären Jazz zurückkehrt.Zu diesem bislang buntesten Qobuzissime gehören auch Theon Cross, der beeindruckende Tuba-Marathon-Spieler (der übrigens Shabaka Hutchings zu seinen Kumpanen bei den Sons Of Kemet zählt), Nubya Garcia, eine Saxofonistin, die sich für Charles Lloyd Poesie begeistert, sowie Joe Armon-Jones, ein sehr kluger Wirrkopf am Keyboard, der seinen Herbie Hancock aus dem Effeff kennt… We Out Here ist ein sowohl dynamisches wie facettenreiches Manifest der neuen Londoner Jazzszene. 

The Comet Is Coming – Trust in the Lifeforce of the Deep Mystery

Der Saxophonist und Klarinettist Shabaka Hutchings ist besessen von Klängen und Fusionen und platziert als Abenteurer seine klanglichen Expeditionen direkt in den Vordergrund der aktuellen britischen Jazzszene… Hutchings wird 1984 in London geboren, wächst unter der warmen Sonne Barbados’ auf und wird schließlich 1999 nach seiner Rückkehr nach England in der Guildhall School of Music vom Saxophonisten Soweto Kinch entdeckt und trifft sich mit Courtney Pine  und Jerry Dammers von den Specials. 2011 gründet Shabaka Sons Of Kemet, ein beeindruckendes Quartett mit Tuba und zwei Schlagzeugen, die eine Fanfare von der Straße und ein Kammerorchester kombinieren und es mit Jazz, karibischer und afrikanischer Musik aus Äthiopien und Ägypten sowie einem Hauch von New Orleans Jazz bereichern. The Comet Is Coming - das keine Verbindung zu Sons Of Kemet aufzeigt - ist wie eine neue Sprache des Jazz. Die eines Sun Ra des dritten Jahrtausends, bei denen Elektro wie ein Adjektiv funktioniert. Shabaka, der sich hier nun King Shabaka nennt, ist umgeben von einem Tandem aus Danalogue an den Tasten und Betamax an den Percussions. Das Programm ist avantgardistisch und auf die starken Rhythmen und hypnotisierenden Improvisationen der Blechbläser abgestimmt. Sun Ra also… Es ist schwierig hier nicht denjenigen zu erwähnen, der für seine Kompositionen und phänomenalen wie psychedelischen Performances oder seine komische wie kosmische Philosophie, die er predigte, verehrt (oder gehasst) wurde. Das zweite Album von The Comet Is Coming, Trust in the Lifeforce of the Deep Mystery, bleibt das Werk schlechthin, bei dem Shabaka nach seiner eigenen Philosophie zeitgenössische Elemente der Semantik des Meisters Ra hinzufügt. Auf Blood of the Past gibt er das Mikro nämlich an die Rapperin und Slammerin Kate Tempest ab!

Sons Of Kemet – Your Queen Is a Reptile

Für seinen ersten Beitrag beim Label Impulse! präsentiert sich Shabaka Hutchings zusammen mit Sons Of Kemet, der Gruppe, die wohl am besten zu ihm passt. Ein angesehenes orange-schwarzes Label, das einmal recht engagiert war und für das Hutchings wie geschaffen war. „Bei diesem Label arbeiteten so viele von meinen Musikhelden, John ColtraneAlice Coltrane und Pharoah Sanders etwa, dass es für mich eine Ehre ist, nun auch zu dieser Familie zu gehören“, erläutert der Szene-Star des so dynamischen, aktuellen britischen Jazz… Der brillante Saxophonist widmet sich ständig neuen Projekten und absolviert einen Gastauftritt nach dem anderen (Sun Ra ArkestraHeliocentricsAnthony JosephFloating Points) und zeigt vor allem einen Riesenappetit, wenn es darum geht, neue Bands aufzustellen: The Comet Is ComingMelt Yourself DownShabaka And The Ancestors und also diese Sons Of Kemet, die seit 2011 aktiv sind. Der Londoner spielt er mit seinen Komplizen, dem Tubaspieler Theon Cross und den beiden Schlagzeugern Tom Skinner und Eddie Hick. Der atypische Jazz seines Quartetts kümmert sich kaum um stilistische Grenzen, wenn es darum geht, die im Vereinigten Königreich niedergelassene Minderheit aus der Karibik zu würdigen und die Art und Weise ihrer Identität auf den Grund zu gehen. Dieses dritte, in London eingespielte Album der Sons Of Kemet mit Gästen wie dem legendären Jungle-Musiker Congo Natty oder dem Poeten Joshua Idehen, ist auch ein Manifest, um das anzuprangern, was Hutchings und seine Freunde die Ungerechtigkeit der britischen Monarchie nennen, das repressive politische System, in dem die sozialen Ungerechtigkeiten und die Rassendiskriminierung als rechtmäßig gelten. Da sie das von der Königin von England repräsentierte System mit den großen sozialen Unterschieden ablehnen, bieten sie eine Alternative, die andere Königinnen verherrlicht. „Unsere Königinnen setzten ihre Autorität anhand ihrer Aktionen durch, sie dienten als Vorbild und verstanden sich darauf, uns zuzuhören. Nach einer von Grausamkeit und Ungerechtigkeit gekennzeichneten Epoche waren unsere Königinnen fähig, eine strahlende Zukunft in die Wege zu leiten.“ Daher erweist jede Komposition des Albums jeweils einer ganz bestimmten Königin die Ehre: My Queen is Ada Eastman, My Queen is Harriet Tubman, My Queen is Angela Davis, My Queen is Yaa Asantewaa.

Musikalisch gesehen greift Your Queen Is A Reptile sowohl auf das musikalische Erbe aus New Orleans als auch auf das aus London, der Karibik oder dem Nahen Osten zurück. Sogar Rap, Spoken Word und Dub bereichern diesen facettenreichen Jazz, welcher der Marke Impulse! – in den sechziger und siebziger Jahren Synonym für allerlei stilistische Konkurrenz – eine aktuelle und wahrhafte Identität verleiht. Ein Volltreffer.

Binker & Moses – Journey to the Mountain of Forever

John Surman und Jack DeJohnette (Invisible Nature), Charles Lloyd und Billy Higgins (Which Way Is East), Max Roach und Anthony Braxton (Two in One - One in Two), Dewey Redman und Ed Blackwell (Red & Black), John Zorn und Milford Graves  (50th Birthday Celebration), Sonny Simmons und Billy Higgins (Backwoods Suite) und – das Beste zum Schluss – John Coltrane und Rashied Ali (Interstellar Space): Duos aus Saxophon und Schlagzeug gibt es nicht allzu häufig im Jazz. Dennoch haben der Tenorsaxophonist Binker Golding und der Schlagzeuger Moses Boyd sich genau diese Kombination ausgesucht. Das junge Zweigespann (26 und 29 Jahre alt), das aktiv in der brodelnden, britischen Szene mitwirkt, hat es sich für sein zweites Album nicht gerade leicht gemacht: Ein 80-minütiges Doppelalbum, das innerhalb von zwei Tagen im Sommer 2016 aufgenommen wurde, ohne Montage, nachträgliches Mischen oder zusätzliches Nachbearbeiten! Diejenigen, die die beiden leidenschaftlichen Musiker bereits live erleben durften, kennen die rhythmische sowie narrative Einzigartigkeit ihrer Musik. Ihr erstes Album Journey To The Mountain Of Forever versprüht eine unglaubliche Energie und der Geist von Sonny Rollins (Fete By The River) ist vom Anfang bis zum Ende allgegenwärtig. Für ihr zweites Album laden Binker und Moses den Saxophonisten Evan Parker, den Trompeter Byron Wallen, den Harfenisten Tori Handsley, den Perkussionisten Sarathy Korwar und den Schlagzeuger Yussef Dayes zu ihrer energiegeladenen Reitpartie ein. Diese Gäste passen sich geradezu perfekt an das Improvisationsspiel ihrer Gastgeber an, die ebenfalls in der Lage sind, auch mal eine eher spirituelle und meditative Stimmung zu erzeugen (Gifts From The Vibrations Of Light). Zwei wahre Talente, die uns zum Staunen bringen!

GoGo Penguin – Man Made Object

Chris Illingworth, Pianist von GoGo Penguin sagt, er habe den Titel Man Made Object aufgrund seiner Faszination für Robotertechnik und der Konzepte des Transhumanismus ausgewählt. Human, ja, das beschreibt die Musik des Trios, das 2012 in Manchester gegründet wurde. Auch wenn seine Wurzeln im Jazz liegen, sind diese mit Pop, klassischer Musik oder gar Elektro verwoben. Wie v2.0, das 2014 veröffentlicht wurde, wurde auch dieses 2016 erschienene dritte Album der Jungs aus Manchester von Joe Reiser und Brendan Williams in den Giant Wafer Studios im Herzen von Wales und in den 80 Hertz Studios in Manchester produziert. Man erkennt diesen organischen Sound wieder und vor allem ihre Fähigkeit, Melodien zu zähmen, die das Herzstück der Musik von GoGo Penguin bilden. Eine Auszeichnung verdient die komponierte Rhythmik des Kontrabassisten Nick Blacka und des Schlagzeugers Rob Turner, die dem Ganzen eine unverwechselbare Stabilität verleihen.

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