Für etliche Leute sind sie Geschmackssache. Kein anderes Stimmfach indes ist in den letzten 50 Jahren dermaßen explodiert. Countertenöre definieren unser Zeitalter. Hier sind die Besten.

Der Countertenor, das fremde Wesen. Was immer über “Anderssein”, Alterität, Diversität und fluide Geschlechtergrenzen in den letzten Jahren ausposaunt wurde (und wird), scheint im Phänomen des Countertenors seinen perfekten Ausdruck zu finden. Der Countertenor ist metrosexuell von Haus aus. So muss es nicht verwundern, wenn aus einem anfänglich vereinzelten Randphänomen der Klassik ein zentrales Feld jüngerer Talente geworden ist. Nachwuchsschwierigkeiten kennt der Countertenor nicht.

Definitorisch ist die Sache einfach. Countertenor, das bezieht sich auf die Lage oberhalb des Tenors. Entsprechend müssen Sänger, die sich stimmlich in der Region eines Mezzosoprans aufhalten, ihre Kopfstimme aktivieren bzw. hinzunehmen; wie auch immer sie das anstellen. Ob es nun durch eine raffinierte Mischung von Brust- und Kopfstimme geschieht (die so gennante “voix mixte”) oder durch reines Falsettieren, bleibt Privatsache. Hierüber allgemeine Klarheit zu erlangen, ist schwer, zumal die Auskunft der Sänger meist nicht weiterhilft. Kein Countertenor wird zugeben, er “fistele”. Der Verfasser jedenfalls hat noch keinen getroffen.

Die Besten gehen künstlerisch eigene, unverwechselbar individuelle Wege

Historisch gesehen, haben die Countertenöre die Kastraten des 18. Jahrhunderts beerbt. Deren Gesangstechnik aber war eine andere. Durch den frühzeitigen operativen Eingriff wurde das Lungenvolumen im Wachstum gefördert. Kastraten sangen sozusagen mit überdimensioniertem Brustkorb. Diese erwünschte Fehlbildung ermöglichte es ihnen, mit der Bruststimme höher hinaufzukommen. Training tat das übrige. Es gibt Fachleute, die bestreiten, dass der operative Eingriff überhaupt nötig war. Sie vergleichen die Ausbildung der Kastraten eher mit derjenigen in einem Shaolinkloster. Der Themenkomplex, wie man sieht, steckt voller Geheimnisse.

Nicht wenige Leute reagieren zweifelnd oder gar ablehnend auf das scheinbar unmännliche Organ dieser Spezies. Jüngere Künsler wie etwa Jakub Józef Orliński indes pflegen ein prononciert maskulines Selbstverständnis. Andere, etwa Max Emanuel Cencic oder der legendären Russell Oberlin, könnte man ohne weiteres für Frauenstimmen halten. Die Besten stehen über derlei Kategorien. Sie gehen künstlerisch eigene, unverwechselbar individuelle Wege. Keine Frage, dass das vielbeklagte Unpersönlichwerden heutiger Stimmen auf Countertenöre nicht zutrifft. Sie sind gut unterscheidbar, ja Ausbünde an Unverwechselbarkeit. Schon deswegen boomt der Sektor zu Recht. Und erfreut sich ungebrochener, sogar noch wachsender Beliebtheit.

Wenn die Alte Musik derjenige Bereich der Klassik sein sollte, in dem die ganze Branche am muntersten floriert, so ist der Countertenor in dieser Hinsicht der Jungbrunnen schlechthin. Großartige Leute, wo immer man hinschaut. Ob wir jemals eine “Callas der Countertenöre” erleben – also ein Starwesen, dass sich mit demjenigen der Kastraten messen kann – bleibt zwar fraglich. Höchste Zeit dennoch, die historisch außerordentlichsten Exponenten an dieser Stelle einmal ausgiebig zu feiern.

Alfred Deller

Er war der Gründervater heutiger Countertenöre. Ob er tatsächlich dermaßen aus dem Nichts auftauchte wie es scheint? Sicher nicht. Fest steht, dass Alfred Deller (1912–1979) ein Wunder war. Der englischen Chortradition entstammend, exzellierte er vor allem im Konzert-Repertoire (einschließlich Oratorien). Keiner konnte einen so narkotischen Gebrauch von einer hohen Männerstimme machen wie er. Man wird süchtig danach. Er selbst verzog dabei keine Miene, schien das bestrickende Timbre seines Organs aber doch innerlich zu genießen. Kaum zu verstehen ist, dass dieser Sänger-Gigant bei heutigen Nachfolgern kaum noch bekannt ist. “Alfred Deller? Den Namen habe ich schon mal irgendwo gehört…”, so äußerte sich ein heute gefeierter Countertenor gegenüber dem Verfasser sehr unbestimmt. “Ohne Deller”, so wollen wir ihm zurufen, “gäbe es dich selber nicht!” – Alfred Dellers vielleicht schönste Platte sind die Shakespeare-Songs (Harmonia Mundi France, 1969). Eine Spur zu spät, nämlich erst zwei Jahre vor seinem zu frühen Tod aufgenommen, aber trotzdem sehr schön: Henry Purcells “Music For A While”. Zum Niederknien. Ein Phänomen, der ganze Mann.

James Bowman

Der jüngst verstorbene James Bowman (*1941) knüpfte direkt bei Deller an. Er verfügte freilich über ein ausgeglicheneres, androgyneres Organ als sein sehr männliches Vorbild. Bowman war der erste, im landläufigen Sinne schön klingende Counter. Eine “Seifigkeit” im Timbre, also der leicht kneifende, “fettlösende” Faktor der Stimme, schien bei ihm auf ein Minimum reduziert. Den Oberon in Benjamin Brittens “Midsummer Night’s Dream”, mit welchem Widmungsträger Deller noch gefremdelt hatte, wurde seine “signature role”. Den Apollo in “Death In Venice” komponierte Britten direkt für ihn. Außerhalb Englands wurde Bowman kaum bekannt, genoss nicht denselben, halb mythischen Rang wie in seiner Heimat. Große Schallplattenfirmen haben sich nie für ihn interessiert. Dennoch steht er höher als der zweite große Deller–Schüler und –Bewunderer, welcher später als Dirigent zur Schlüssel-Figur der Alten Musik wurde (obwohl er eigentlich Countertenor war): René Jacobs. Warum? Bowman hatte doch eben die viel schönere, streichelnd angenehmere Stimme.

Klaus Nomi

Der Pop-Star mit dem ikonisch dreieckigen Frack, weiß geschminkt und mit stilisiertem Kussmund, gehört in diese Liste eigentlich kaum hinein. Jedenfalls ebensowenig wie, sagen wir: Michael Jackson oder Dieter Bohlen. Sie alle fistelten – ließen die Stimme also nach oben überschlagen. Sie sind darin konsequente Nutznießer der von uns behandelten, klassisch ausgebildeten Spezies. Klaus Nomi, der in Berliner Schwulenclubs startete, galt bei seinem frühen Tod 1983 als eines der ersten prominenten Aids-Opfer. Von klassischen Musikern, zum Beispiel Dorothee Oberlinger, wird er bis heute stark bewundert. Der synthetische, künstlich amplifizierte Klang seiner Stimme schien nicht von dieser Welt. Seine Version von Purcells “The Cold Song” aus “King Arthur” faszinierte Andreas Scholl (s.u.) so sehr, dass er bei seiner eigenen Aufnahme Nomi bewusst imitierte. Dieser repräsentiert das traumtänzerisch Sphärenwandlerische des Stimmtypus besser als jeder andere. Aber auch den hyperexotischen Hype, der eine Art akustischen Voyeurismus provozierte. Nicht zuletzt ist Klaus Nomi ein herausragendes Beispiel dafür, wie Pop-Musik gelegentlich auch die Klassik inspiriert.

Jochen Kowalski

Als er anfing, wusste er selber nicht, was das war: ein Countertenor. Eines Tages jedoch spendierte Jochen Kowalski (*1954) auf einer Probe einer schwächelnden Kollegin deren höchsten Ton. Alles staunte. Er hatte sich selbst entdeckt. Kowalski war der erste genuine Opern-Countertenor: ein Sänger, der nicht nur die sakralen, kirchenmusikalischen Aspekte des Repertoires abbilden konnte, sondern das dramatische Potential seines Stimmtypus völlig neu erforschte und zu glorioser Entfaltung brachte. An der Komischen Oper Berlin war er der Protagonist einer von Regisseur Harry Kupfer maßgeblich initiierten Händel-Renaissance. Gesanglich folgte er übrigens der von ihm bewunderten russischen Kontraaltistin Zara Dolukhanova (und kam dieser erstaunlich nahe). Den koketten Hüftschwung beherrschte er gleichfalls; wodurch er es im Operettenfach, als Prinz Orlofsky, bis an die Metropolitan Opera brachte. Kürzlich hat er seine Bühnen-Laufbahn beendet – als Amme in Monteverdis “Poppea”. Kein Zweifel, Jochen Kowalski ist einer der wichtigsten deutschen Sänger der vergangenen 50 Jahre.

Andreas Scholl

Bis heute dürfte er, unter Star-Gesichtspunkten noch erfolgreicher als Kowalski, der Countertenor mit der harmonisch ausgeglichendsten, ideal wohlklingendsten Stimme überhaupt sein. Übertroffen wurde Andreas Scholl (*1967) darin höchstens von dem weit jüngeren Valer Sabadus. Gemeint ist: Keine hohe Männerstimme klang je schlackenlos angenehmer, anschmiegsamer, dezent erotischer als die von Scholl. Für die Oper war er dafür etwas zu defensiv und kam nur vorübergehend hier an. Ein Temperamentsbolzen war er nie. Bestechend dagegen seine Musikalität, der lässige Ernst und die Geschmackskompatibilität seiner Kunst. Unter Sängern aller Fächer wird kaum ein Countertenor höher geschätzt als er. Herausragend seine “Deutschen Barocklieder” (Harmonia Mundi France), herrlich auch seine Mitwirkung an Bach-Oratorien unter Leitung von Philippe Herreweghe und Jacobs. Ohne viel Aufhebens von sich zu machen, hat es Andreas Scholl in den letzten Jahren etwas stiller um sich werden lassen. Auch in dieser Zurückhaltung erweist er sich als das, was er ist und bleibt: der Countertenor als “everybody’s darling”.

Bejun Mehta

Als versatiler Sänger konzentrierte sich Bejun Mehta (geboren 1968 als Großneffe des Dirigenten Zubin Mehta) zunächst auf Barockopern. Von hier aus legte er einen Spagat zum Zeitgenössischen hin (zum Beispiel George Benjamins Oper “Written On Skin”). Begonnen hatte er sehr erfolgreich als Knabensopran, wobei er noch die Bewunderung Leonard Bernsteins fand. Neben Kowalski (und dem hier gleichfalls zu nennenden David Daniels) ist Mehta der einzige, echte Opern-Countertenor dieser Liste. Und der katzenäugigste sowie stimmschönste dazu. Auch in Fragen der Geschlechtsfluidität mag er einen Schritt nach vorn markieren: als Ahnherr heutiger, offensiv androgyner und “genderüberschreitender” Countertenöre wie Samuel Mariño (der sich indes als “männlicher Sopran” versteht). Dass Countertenor-Karrieren früher enden, belegt er gleichfalls. Kaum ein Jahrzehnt nach dem Beginn seiner Laufbahn neigt diese sich bereits leicht. Mehta hat, ähnlich wie Jaroussky (s.u.), mit dem Dirigieren begonnen. Da er für die Harmonia Mundi France irgendwann doch zu flamboyant wurde, wechselte er die Firma. Dennoch sind seine besten Aufnahmen hier entstanden.

Philippe Jaroussky

Dieser französische Pionier verfügt über den wohl leichtesten, soubrettenhaft fragilsten Countertenor bisheriger Zeiten. Vom Publikum bekam er nach Konzerten daher oft zu hören: “Passen Sie gut auf sich auf!” Tatsächlich schien Philippe Jaroussky (*1978) jederzeit dazu aufgelegt, Adele in der “Fledermaus” (nicht aber Orlofsky) zu singen. Was ein Irrtum ist. Die Reichweite seiner Stimme, die Möglichkeiten seiner Tessitura waren begrenzt. Umso mehr darf man bewundern, was Jaroussky aus seiner nicht zu großen Stimme herausgeholt – und repertoiremäßig erobert hat. Mit dem ersten Francesco Cavalli-Album überhaupt, außerdem als Vivaldi-, Porpora- und Caldara-Sänger folgte er dem Entdeckergeist der von ihm bestaunten Cecilia Bartoli. Letztere revanchierte sich durch die These, dass nicht die Countertenöre, sondern Mezzosoprane die wahren Nachfolger der Kastraten seien. Begründung: Countertenöre falsettieren, während Frauenstimmen ohnehin weiter hinauf reichen. Die Frage, ob man eine Rolle mit einem Mezzosopran besetzt oder lieber mit einem Counter, ist folglich für viele Dirigenten eine absolute Gretchenfrage. Man begegnet Countertenören seltener als möglich.

Franco Fagioli

Kein wirklicher Sopranist, sondern ein sehr hoher Counter. Mit seinen vokalakrobatischen Höhenflügen kann der Argentinier Franco Fagioli (*1981) sogar jene Kastratennummern für sich beanspruchen, die noch Rossini schrieb. Auch Hosenrollen wie Sesto in Mozarts “Clemenza di Tito” singt er. Damit rückt der Zeitpunkt näher, wo auch Octavian im “Rosenkavalier” dereinst von einem Mann gesungen werden könnte. Fagioli blieb trotzdem eher eine Insider-Größe. Und bestätigt darin (leider), dass jeder Schritt “höher hinauf” immer noch jenen leichten Freak-Verdacht neu auf sich zieht, der vielen Countertenören Schwierigkeiten gemacht hat. Das Vorurteil “abzuarbeiten” und hinter sich zu lassen, dass man vielleicht etwas bizarr sei, war schon Jarousskys großes, erklärtes Ziel. Doch es kehrt immer wieder, auch wenn es lästig ist. Vorläufer wie der einst berühmte Michael Aspinall (der heute in Mailand lebt) besaßen zu ihrer Zeit nicht zufällig ein ausgeprägtes Travestie- und Paradiesvogel-Image. Tempi passati. Und doch immer noch nachwirkend, besonders in der zirkushaften Virtuosität allerschönster Gipfelstürmerei.

Valer Sabadus

Dass Countertenöre “Trickbetrüger” mit undurchsichtiger Technik, akrobatischer Suchtgefahr und Salto-mortale-Lust seien, würde man bei ihm nicht mehr vermuten. Bei dem in Rumänien geborenen, in München wohnhaften Valer Sabadus (*1986) scheint alles Natürlichkeit, Organik und milder Charme. Er hat den weichsten Countertenor von allen. Und wirkt dennoch maskuliner als die vorher genannten, androgyneren Kollegen (einzige Ausnahme: Scholl). Darin dürfte man Sabadus als Repräsentanten einer Gegenwart ansehen können, in der sich die Fronten entspannt haben und die Gegensätze künstlerisch versöhnt scheinen. Dies verbindet ihn mit dem polnischen Countertenor Jakub Józef Orliński. Die beiden bilden beinahe so etwas wie eine Doppelspitze. Letzterer rappt auch. In den großen Opernhäusern spielen beide, ja spielen alle hier Genannten keine prägende Rolle. Die Stimmen, meistenteils, sind nicht groß genug. Auf einen Countertenor-Weltstar, der den Covent Garden füllt, wartet die Welt bislang vergebens. Das dürfte auch Sabadus, dessen frühe Aufnahmen die schönsten sind, nicht ändern.


Bruno de Sá

Großer Auftritt stattdessen für: Bruno de Sá (*1989). Er ist der erste, überaus erfolgreiche Sopranist der Szene. Und behauptet konsequent: “Ich bin kein Countertenor.” Begründen tut er das so, man würde ja auch Soprane nicht den Mezzosopranen zuschlagen, nur weil das die Sache übersichtlicher macht. Trotzdem kommt er in dieser Liste hier vor. Mit dem aus Brasilien gebürtigen, im Kirchenchor großgewordenen und durchaus religiösen de Sà nämlich ist noch einmal eine neue Zeit angebrochen. Sein Debüt-Recital bei Erato ist nicht zufällig eine Fundgrube sondergleichen. An guten Tagen kommt Bruno de Sá hinauf bis zum dreigestrichenen F. Er könnte auch die Königin der Nacht singen. Trat auch schon in Frauenrollen auf – und träumt, ganz im Ernst, von Susanna, Adina und Lucia di Lammermoor. An Nachwuchs, wie man sieht, fehlt es der Szene nicht – auch wenn die Parameter sich ändern. Gäbe es doch, so stöhnt man unwillkürlich auf, nur auch so viele Verdi-Heldenbaritöne oder Kontraaltistinnen. Einen Countertenor-Boom wie heute hätte vor 20 Jahren niemand für möglich gehalten. Die Countertenöre, kein Zweifel, definieren unser Zeitalter.


*Beitrag aus dem Fono Forum/Januar 2023. Das monatlich erscheinende Magazin Fono Forum bietet mit seinen Rezensionen, Artikeln und Interviews einen umfassenden Blick über die neuesten Plattenerscheinungen sowie das Musikgeschehen der Genres Klassik und Jazz.