ECM ist eines der seltenen Labels, das eine wahre redaktionelle Politik verfolgt. Manfred Eicher, Gründer des Münchner Hauses, der vor kurzem seinen 80. Geburtstag feierte und nur selten für ein Interview zu haben, erzählte uns über seinen Weg und seinen Alltag voller Musik, Stille und Freiheit.

Ja genau. Und ich bin es immer noch. Heute zähle ich mich zu den Musikern. Ich habe begonnen Geige zu spielen, als ich 6 Jahre alt war. Danach bin ich mit 14 zum Kontrabass umgestiegen, als ich Paul Chambers Miles Davis spielen hörte. Ich habe mit den Berliner Philharmonikern und anderen klassischen Formationen gespielt, aber auch mit Jazzmusikern. Ich liebte es, von der verschriftlichten musikalischen Welt in die Welt der Improvisation einzutauchen. Es ging nicht darum, Bekanntschaften und Erfahrungen zu sammeln, sondern vor allem darum, meine Leidenschaften auszuleben. Ich liebe Kammermusik - ich bin mit dem Repertoire aufgewachsen, das meine Eltern hörten: vor allem Schubert, aber auch Rock oder Jazz von Miles und dem Bill Evans Trio...

Wie hat alles begonnen?

Ganz ehrlich, auf ganz unschuldige Weise. Ich war nur ein Musiker mit klassischer Ausbildung, der klassische Musik und Jazz hörte und der aufgehört hatte Kontrabass zu spielen, um Produzent zu werden und somit der Musik so nah wie möglich zu sein. Und ich wollte mich auch nicht auf nur ein einziges Instrument beschränken und auch nicht als Solist um die Welt reisen. Aber als Produzent konnte ich mich der Musik so annähern, um sie in Stein zu meißeln. Ein musikalischer Bildhauer. Aber dies hatte sich nicht sofort ergeben. Nein, denn als ich als Orchestermusiker aufnahm, konnte ich es nicht lassen, hinter die Konsole zu laufen und zu hören, wie die Aufnahme klang. Darüber hinaus hat mir das Resultat nie wirklich gefallen. Als ich selbst Produzent wurde und Jazzmen aufnahm, kam mir sofort die Idee, die Philosophie und Konzentration der aufgenommenen Kammermusik umsetzen. Diese Klarheit der Herangehensweise, der Konzentration und selbst der Dynamik. Etwas, das es bei den Jazz-Platten zu dieser Zeit so noch nicht gegeben hatte.

Manfred Eicher - © Marek Vogel / ECM Records

Erinnern Sie sich an den Tag, an dem Sie zum ersten Mal ein ECM-Album in der Hand hielten, diese Platte von Mal Waldron? War es wie ihr Baby?

Es hieß Free At Last (Endlich frei) und repräsentierte den Beginn dessen, was ich tun wollte. Leider ist es nicht ganz so romantisch gewesen, wie Sie es beschreiben. Aber es ist richtig, dass das fertige Produkt in den Händen zu halten, das Cover zu begutachten, all das symbolisierte, was ich tun wollte...

Ihre Herangehensweise scheint stets auf eine gewisse Weise der eines Buchverlegers zu ähneln anstelle der eines Label-Direktors. Die kontinuierliche Ästhetik, die langjährige Treue gegenüber den Musikern etc...

Ich war schon immer ein begeisterter Leser und Kinogänger. Ich liebte die Arbeit, die Verleger wie Suhrkamp in Deutschland oder Gallimard in Frankreich leisteten. In der Gründungszeit von ECM gab es diese langjährige Beziehung zwischen Musiker und Label noch nicht. Etwa wie eine Loyalität, die sich auf lange Hinsicht aufbaut. Die Musikindustrie hinderte diese enge Zusammenarbeit und dies hat sich sicherlich heute mit den großen Häusern verschlechtert, deren Büros von Marketing-Leuten gefüllt sind, anstatt mit Kunstintseressierten.

Man hat den Eindruck, dass es für Sie ein vor und nach Kind Of Blue von Miles Davis gibt. Wie hat sich die Platte mit Ihnen entwickelt?

Sobald ich einen Titel wie Blue In Green höre, liebe ich die musikalische Herangehensweise. Es ist gleichzeitig eine sehr intensive musikalische Erinnerung, die ganz klar in meinem Geist besteht. Sie repräsentiert das, wozu ich Lust habe. Mein Ziel. Mein soziales Leben. Es ist das perfekte Beispiel von Kammermusik, wie ich sie erfahre...Kind Of Blue war seiner Zeit weit voraus. Ein perfekter Sound und die Musik selbstverständlich auch...

Gary Peacock, Keith Jarrett & Jack DeJohnette - © Sven Thielmann / ECM Records

Sie haben diese Beziehung zwischen Herausgeber und Autor über lange, lange Jahre immer in den Vordergrund gerückt, so, wie auch Sie selbst eine Beziehung zwischen ECM und zahlreichen Musikern pflegen...

Mein ursprüngliches Ziel war nicht unbedingt, eine Langzeitbeziehung aufzubauen. Sicherlich kann es sehr starke Bewunderung geben, aber das Ziel ist es vor allem, Spaß dabei zu haben. Was die Leute betrifft, mit denen ich arbeite, seien es Musiker, Toningenieure oder Grafiker - ich hatte immer das Glück, die Leute auszusuchen, mit denen ich eine gute Verbindung aufbauen konnte, so wie Sie es ansprechen. Ich kann weiter mit ihnen arbeiten und sie ebenfalls mit mir. Es funktioniert auf beiden Seiten. Die Langlebigkeit des Ganzen ist für mich sehr wichtig, denn nur die Zeit ermöglicht es, Nuancen zu entdecken, die Qualitäten und Möglichkeiten eines Menschen während einer Aufnahme. Es ist so, als würde man die Biografie eines Künstlers zu zweit schreiben. Nehmen wir Keith Jarrett, ich weiß es nicht einmal mehr, wie viele Platten wir gemeinsam gemacht haben, aber die Tatsache, hinterher gemeinsam darauf zurückzublicken, ist eine fabelhafte Leistung. Das Fortbestehen! Alles liegt im Fortbestehen! Es ist genau da, wo man neue Dinge erfinden und entwickeln kann. Aber es benötigt Inhalt und Material. Und das ist es, was mich heutzutage betrübt. Die Menschen sprechen ununterbrochen von Mode. Eines Tages ist es dies, ein anderes Mal ist es das, es gibt keine Beständigkeit mehr. Und nicht wirklich mehr Inhalte...Ich brauche Harmonie mit einer gewissen Ästhetik und dem Material, das die Musiker liefert. Ich produziere Platten, da ich an Musik glaube. Und wenn diese Musik dann Erfolg hat - umso besser.

Der Beginn Ihres Labels ist auf die 60er und 70er Jahre zu datieren, wo Politik und Kultur sich gelegentlich vermischten. Der politisierte Free Jazz, die Protestbewegungen der westlichen Welt...hat Sie all das künstlerisch bewegt?

Es ist richtig, dass sich zu dieser Zeit viel ereignete, in Deutschland vor allem mit der Baader Bande. Es waren aufregende Jahre, das muss ich zugeben. Aber ich würde nicht sagen, dass dies meine ästhetische Vision von Musik beeinflusst hätte. Ich war Persönlichkeiten wie Peter Brötzmann und Peter Kowald eng verbunden, oder sogar Evan Parker, den ich schon früh aufgenommen hatte. Aber ich wollte nicht so viel mit der Free Jazz Szene zusammenarbeiten, da ich der Meinung war, dass diese Musik live gespielt werden sollte. Diese Intensität in ihrer Globalität und Kraft ist sehr schwer auf ein Band aufzunehmen. Vor allem war die analoge Aufnahmetechnik, was die Dynamik anbelangte, begrenzt. Man kann mit Nostalgie auf die analoge Zeit zurückblicken, aber heute sind unsere Möglichkeiten viel ausgedehnter. Natürlich wollte ich nicht, dass dies Auswirkungen auf meine Vision der Musik, wie ich Ihnen schon sagte, nah an der Kammermusik, hatte. Ich habe das Adagio schon immer dem Presto vorgezogen...Und ich hatte schon immer eine besondere Vorliebe für Melancholie...

Schnell hat Ihr am Jazz orientiertes Label seine Türen für Klänge aus Asien, Afrika und andere Kontinente geöffnet. Wie ist diese Öffnung abgelaufen?

Auf ganz natürliche Weise. Als ich noch Musikstudent war, bin ich viel gereist, vor allem in die Länder Ostasiens, Albanien, China, Afrika etc. Und ich habe alles, was ich konnte, mit einem Nagra aufgenommen. Auch wenn es nur ein einfacher Hirte war, der Flöte spielte. ECM für diese Klänge zu öffnen, hat sich für mich ganz natürlich angefühlt...Die Entwicklung mit ECM ist mit der Gründung von ECM New Series 1984 vorangeschritten. Wieso dieses Bedürfnis nach einem zweiten Label? Es stimmte, dass wir kein Unternehmen oder einen Stempel brauchten, ich wollte lediglich die Aufnahmen von improvisierter Musik und von verschriftlichter Musik trennen. Tabula Rasa von Arvo Pärt war das erste Album, auch wenn wir schon Music For 18 Musicians von Steve Reich oder fast-geschrieben Stücke von Meredith Monk veröffentlicht hatten. Aber diese Stücke von Arvo Pärt benötigten wirklich etwas anderes. Die Herangehensweise an diese Musik war eine andere...

Hat diese andere künstlerische Annäherung Ihre Arbeit verändert?

Ich musste mich wieder der Partitur widmen. Eine Partitur lesen, wie am Anfang. Es war interessant, 1984 zu all dem zurückzukehren. Und vor allem von großartigen Komponisten umgeben zu sein wie György Kurtág, Arvo Pärt, Valentin Silvestrov, Heinz Holliger oder Giya Kancheli - es war es fantastisch, mit ihnen zu arbeiten und ihnen ihre Musik zu ermöglichen. Diese Disziplin der Wahrheit einer Partitur, aber auch der Wahrheit einer gewissen Idee des Komponisten war so leidenschaftlich. Ich habe also versucht, diese Disziplin in meine Suche nach einer bestimmten Dynamik, einer gewissen Intonation, Phrasierung etc. aufzunehmen. Diese Arbeit hat mir anschließend dabei geholfen, als ich mich an die Jazzmusiker gewandt habe und zur improvisierten Musik zurückgekehrt bin, vor allem was die Atmosphäre betrifft.

Arvo Pärt & Manfred Eicher - © Caroline Forbes ECM Records

Die Begegnung mit der Musik Arvo Pärts, war sie genauso wichtig für Sie wie Kind Of Blue?

Ja, das war ein wirklicher Schock. Ich habe diese Musik im Radio entdeckt. Ich fuhr auf der Autobahn von Zürich nach Stuttgart, mitten in der Nacht. Ich habe angehalten, um besser hören zu können, um mich umsehen zu können. Später erfuhr ich, dass es sich um eine Live-Aufnahme aus Tallinn von 1977 von Tabula Rasa mit Gidon Kremer und Tatiana Gridenko handelte. Ja, ein wahrer Schock.

Ich meine mich zu erinnern, dass die Assoziation mit dem "ECM-Sound" Ihnen Angst bereitet...

Das ist nicht das einzige, das mir Angst macht. Es liegt nur daran, dass ein aufmerksamer Hörer sich schnell bewusst wird, dass die Palette unseres Labels sehr breit gefächert ist! Dieser so genannte ECM-Sound oder auch die Wahrnehmung, die einige davon haben, zählt nur für eine Hand voll Platten. Es stimmt, dass ich lyrische und poetische Musik dem Presto vorziehe. Ja, ich mag Kammermusik lieber als orchestrale Musik...Aber der "ECM-Sound" ist wirklich ein Klischee. Wir versuchen, nur den Sound zu produzieren, der am besten zur Musik passt. Wir formen den Klang nach musikalischen Formen und den Künstlern. Es ist wirkliches Teamwork. Wir haben sicherlich eine Affinität für klaren Sound, für Durchsichtigkeit und Transparenz des Klangs. Die Leute sprechen häufig von einer permanenten Verwendung des Nachhalls in unseren Aufnahmen, aber es hängt öfter mit den Orten zusammen, an denen sie stattfinden und die diesen Hall mitbringen. Und genau diese Orte inspirieren das Spiel unserer Musiker. Sie motivieren sie dazu, auf die eine oder andere Art zu spielen und auch die ausgewählte Instrumentierung spielt bei dem Endresultat eine Rolle. Wenn ich einen Lexicon 480 verwende, dann ist es so, als wäre es ein Instrument und nicht wie ein Utensil aus dem Studio.

ECM ist eines der seltenen Labels, das eine wahre redaktionelle Politik verfolgt. Manfred Eicher, Gründer des Münchner Hauses, feiert heute seinen 80. Geburtstags und damit auch jahrzehntelangen Erfolg mit ECM. Wir durften den Labelchef, der nur selten für ein Interview zu haben ist, 2009 treffen, wo er uns über seinen Weg und seinen Alltag voller Musik, Stille und Freiheit berichtet.

Das Gespräch führte Marc Zisman

Deutsche Fassung: Sandra Zoor