Keith Jarrett musste seine Karriere tragischerweise nach zwei Schlaganfällen im Jahr 2018 beenden und jede darauffolgende Veröffentlichung einer unveröffentlichten Aufnahme löst seitdem bei seinem Publikum das ebenso freudige wie beunruhigende Gefühl einer gewissen Ablauffrist aus. Wie eine Zugabe nach einem Konzert, von der man sich wünscht, sie würde ewig dauern. ECM, das historische Label des amerikanischen Pianisten, veröffentlicht diesen Freitag eine herrliche Version der württembergischen Sonaten von C.P.E. Bach, in der Jarrett sich als unerwartet zart und sanft erweist.

Jarrett hat etwas Unbeschreibliches an sich, das man nicht in eine bestimmte Kategorie einordnen kann. Jarrett ist ein Mann der Kontraste — um nicht zu sagen der Widersprüche. Mindestens ebenso wichtig wie seine Diskretion in den Medien ist sein Größenwahn auf der Bühne, wo sich das Publikum in eine Wachsfigur verwandeln muss, die regungslos und schweigend dasteht, um nicht den Zorn des improvisierenden Pianisten zu erregen, der die Bühne wegen eines einfachen Hustens oder Flüsterns verlassen kann. Die Zuschauer im Salle Pleyel (Paris) im Juli 2014 haben diese bittere Erfahrung gemacht. Aber auch seine Karriereentscheidungen waren kontrastreich: Er navigierte auf Sicht zwischen dem Jazz — dessen improvisierte Ansätze er vor allem im Trio radikal erneuerte — und dem strengen Barock, wobei er im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen und Kolleginnen nie versuchte, Brücken zwischen den beiden Genres zu bauen. Er legte einen extremen Perfektionismus an den Tag, was seine Spielbedingungen vor Ort betraf, und war gegenüber dem großen ECM-Labelchef Manfred Eicher flexibler, indem er die Veröffentlichung einiger weniger inspirierter Werke akzeptierte (man denke an die überarbeiteten Balladen von The Melody at Night, with You, 1999). Ein rätselhafter Künstler also, der zu den sonnigsten Glanzlichtern, aber auch zu den verwirrendsten unkontrollierten Ausrutschern fähig ist.

1945 in Pennsylvania geboren, begann Keith Jarrett früh mit dem Musikunterricht und entdeckte schnell seine Leidenschaft als Komponist. Nach seinem Studium an der Berklee School of Music in Boston, wo er seine ersten Erfahrungen im Trio sammelte, zog er nach New York. 1967 veröffentlichte er sein erstes Album im Trio mit Charlie Haden und Paul Motian, Life Between the Exit Sign (Vortex). Anfang der 1970er Jahre wurde er Mitglied der Band von Miles Davis und begann eine Zusammenarbeit mit ECM auf Facing You, dem ersten Projekt von vielen.

Doch der Durchbruch sollte am 24. Januar 1975 erfolgen. Das Ereignis, ein Produkt des Zufalls, ist umso mythischer, als ob es beinahe nie stattgefunden hätte. An diesem Tag wurde Jarrett zu einem Soloauftritt in die Kölner Oper eingeladen. Das für den Auftritt vorgesehene Bösendorfer-Klavier war nicht verfügbar, und man teilte ihm mit, dass er sich mit einem Übungsklavier von schlechter Qualität begnügen müsse. Jarrett drohte, das Konzert abzusagen, überlegte es sich dann aber doch anders. Es folgte eine Stunde halluzinierter, über allem schwebender Improvisationen, in denen Jarrett gleichzeitig Forscher, Handwerker, Techniker und Poet war und unauslöschlich den groovigsten Anschlag aller Zeiten und Riffs prägte, die in Erinnerung bleiben werden. Da das Konzert wie durch ein Wunder aufgezeichnet wurde, entwickelte sich das daraus resultierende Album im Laufe der Zeit zur meistverkauften Klavierplatte der Geschichte. Der Mythos Jarrett war im Begriff zu entstehen.

1977 eröffnete Keith Jarrett ein neues Trio mit Jack DeJohnette und Gary Peacock auf dem Album Tales of Another. Die neu gegründete Gruppe brachte Alben heraus, die zu den Monumenten des Jazz gehören (Changeless, Tokyo ‘96, After the Fall). In dieser Zeit betrat Jarrett auch die klassische Sphäre durch die Tür der Improvisation, insbesondere auf dem Cembalo, eine gängige Praxis im Barockgenre, das eine lange Tradition des Generalbass-Spiels kennt. Zu seinen Werken gehören wunderschöne Impressionen von Bach, Händel und Mozart, aber auch interessante Interpretationen zeitgenössischer Autoren wie Hovhaness und vor allem Arvo Pärt, der 1983 zusammen mit dem Geiger Gidon Kremer eine erschütternde Version von Fratres spielte.

Die 1990er Jahre sollten sich schmerzhafter und weniger produktiv gestalten, da der Pianist mit dem chronischen Erschöpfungssyndrom zu kämpfen hatte. Von 2000 bis zum Ende seiner Karriere konzentrierte sich Jarrett nur noch auf seine Trio- und Soloklavier-Auftritte. Glücklicherweise gibt es noch viele nicht exhumierte Aufnahmen des Pianisten, darunter dieser vorliegende C.P. E. Bach gewidmete Schatz, der gerade bei ECM erschienen ist, eine Gesamtaufnahme der Württembergischen Sonaten Wq 49.

Die Württemberger Sonaten wurden zwischen 1742 und 1744 komponiert und nach ihrem Widmungsträger benannt. Sie stellen eine Verbindung zwischen dem Spätbarock und der Empfindsamkeit her, einer künstlerischen Bewegung, die der sogenannten klassischen Periode vorausging und sich durch die Betonung kontrastierender Stimmungen in Tempi, Melodien und Klangfarbenvariationen auszeichnete. Die Sonaten stehen unter dem Einfluss des Vermächtnisses von Bachs Vater, den Carl Philipp Emmanuel sehr verehrte, und stellen einen eleganten Wandel im Werk von C.P.E. Bach dar, indem sie nunmehr die emotionale Expressivität mit der mathematischen Strenge des Kontrapunkts verbinden. Diese Dualität ist in den verschiedenen Sätzen besonders deutlich, wie die Sonate Nr. 1 in a-Moll H.30 zeigt. Auf die ersten beiden Sätze ‘Moderato’ und ‘Andate’, die weit und fließend sind, folgt ein ‘Allegra assa’i mit einer viel eckigeren Metrik. ECM macht uns das unschätzbare Geschenk dieser Sonaten in einer bisher unveröffentlichten Version, die Keith Jarrett im Mai 1994 im Cavelight Studio (New Jersey) aufgenommen hat.

Seitdem der amerikanische Pianist in den Vorruhestand getreten ist, hinterlässt jede neue Veröffentlichung von ihm einen bittersüßen Beigeschmack. So auch dieses Album, in dem sich Elegisches mit Triumphalischem mischt. Weit entfernt von den besonderen Klängen des sprunghaften und elastischen Anschlags, der das unnachahmliche Markenzeichen des Vaters des Köln Concert war, bietet diese perfekt aufgenommene Produktion dem Hörer die Freude eines unerhört runden Klaviers, Jarretts Anschlag ist leuchtend; die Attacken treffen dank eines subtilen Verständnisses für das Spiel der Harmonien mitten ins Herz. Jarretts Phrasierung ist bekannt für ihre Bissigkeit, Unberechenbarkeit und Rebellion. Er erweist sich als ebenso genial in der Schlichtheit und Sparsamkeit und liefert uns hier eine CD von umwerfender Schönheit. © Pierre Lamy/Qobuz

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