Countertenor, Social Media-Star, Breakdancer… Jakub Józef Orliński ist wohl einer der ungewöhnlichsten Barockkünstler unserer Zeit und genau dafür lieben ihn seine Fans. Nun wird für den polnischen Sänger ein langjähriger Traum war: Mit seinem vierten Album ‘Vivaldi: Stabat Mater’ präsentiert uns Orliński das barocke Meisterwerk in audiovisueller Form und erzählt uns in einem exklusiven Gespräch, wie eng er mit diesem Stück seit den Anfänger seiner Karriere verbunden ist.

Es ist 10 Uhr morgens bei Jakub Józef Orliński. Er ist gerade mit seinem Pianisten Michał Biel auf Tournee in Nordamerika und befindet sich im verschneiten Quebec. Sieben Städte in fast genauso vielen unterschiedlichen Zeit- wie Klimazonen, und trotzdem findet der polnische Countertenor einen kurzen Moment für uns. Etwas verschlafen, aber überaus glücklich grinst er uns durch die Kamera an, denn sein neues Album Vivaldi: Stabat Mater bei Warner Classics & Erato ist gerade erschienen. Mit Vivaldi, könnte man meinen, hat auch Orlińskis Karriere angefangen, jedenfalls kennen viele Fans sein berühmtes Youtube-Video auf dem Aix-en-Provence-Festival von 2017, das mehrere Millionen Klicks hat. Doch Orliński reagiert darauf eher bescheiden:

“Ich stimme dem nicht unbedingt zu, denn das Video ist berühmt geworden, weil es an einer großartigen Kulisse stattgefunden hat und man auch keine Konzertkleidung trägt, sondern wie ein ‘normaler Mensch’ zu sehen ist. Aber ich hatte davor auch schon in New York zwei Jahre an der Juilliard School studiert und bereits viele Projekte in den USA und in Europa unternommen. Deshalb denke ich, dass dieses Video zwar die Chance bekommen hat, sich zu verbreiten und natürlich bin ich viel sichtbarer geworden, aber ich neige nicht dazu zu sagen, dass es mich berühmt gemacht hat, weil… ich immer noch nicht berühmt bin! Was bedeutet eigentlich berühmt sein oder Ruhm haha?”

Auch wenn wir ihm da vielleicht inzwischen widersprechen müssten, so hat Jakub Józef Orliński bereits jetzt unsere Herzen erobert. Internet-Berühmtheit hin oder her, fest steht, dass Orliński seit seinen musikalischen Anfängen eine überaus starke Verbindung zu Vivaldi und besonders dessen Werk Stabat Mater besitzt. “Ich singe natürlich viel Vivaldi, Bach oder Händel und all diese berühmten barocken Komponisten, aber es gibt etwas Besonderes an Vivaldi, denn Vivaldi behandelt die Stimme auf eine andere Art und Weise. Händel hat diese wunderschönen Linien und man kann sehen, wie vokal er gestaltet. Vivaldi, im Gegensatz, schreibt für die Stimme, als wäre sie ein Instrument und diesen Ansatz liebe ich, auch wenn die Art und Weise sehr herausfordernd ist. Ich habe oft in meinem Leben Vivaldis Stabat Mater gesungen, es war eines der Werke, das mir bereits ganz am Anfang meiner musikalischen Reise, als ich in Warschau studierte, gegeben wurde. Und deshalb hatte ich immer im Kopf, dass ich es gerne mit einem Orchester aufführen würde, das war einer meiner größten Träume. Und 2012 ist es passiert, ich habe es im Norden Polens, in einem kleinen Ort bei einem Stadt-Orgel-Festival gesungen. Es war ein Konzert in einer Kirche, das nicht zu pompös, aber auch nicht zu schlicht war und es war so eine unglaubliche Erfahrung, die sich in mein Gehirn und in meine Seele eingebrannt hat.”

©️ Michael Sharkey

Acht Jahre später wird ein weiterer Traum von Orliński wahr und er bekommt die Möglichkeit, 2020 mit dem Ensemble Capella Cravoviensis unter der Leitung des Dirigenten Jan Tomasz Adamus Vivaldis heiliges Meisterwerk nicht nur einzuspielen, sondern darüber hinaus ein 21-minütiges Musikvideo zu drehen, das höchst professionell inszeniert und produziert wird. Ein Riesenprojekt erster Klasse, das sich über jahrelange Arbeit und Aufführungen zu dem entwickelt hat, was uns Orliński heute präsentiert: “Dieses Stück ist eine Reise der Empathie und so behandele ich auch diesen Film, den wir dazu gemacht haben. Wegen meiner langjährigen Beziehung zu diesem speziellen Stück, von meine Studim in Warschau über die Aufführung im Norden Polens, bis hin zu vielen Konzerten mit Il Pomodoro und anderen Orchestern ist es, denke ich, gewachsen und ich bin damit und daran gereift. Es hat mich an einen Punkt gebracht, an dem ich genau wusste, was ich zeigen wollte, was ich sagen wollte und wie ich es singen wollte. Und 2020 konnte ich es endlich mit Capella Cravoviensis aufnehmen.”

Von den ersten kleinen Auftritten während des Studiums bis hin zur Warner Classics & Erato-Produktion - dabei verändert sich sicherlich auch die künstlerische Herangehensweise: “Ja, das ist jetzt ganz anders, denn damals war ich einfach so aufgeregt, dass mich irgendjemand engagierte, um eine Motette von Stabat Mater zu singen! Und nach diesen zehn Jahren und dem Weg, wie man seine Stimme entwickelt, ist meine Herangehensweise jetzt komplett anders. Heute gehe ich viel mehr von den Emotionen aus, von den Texten und von dem, was wir im Video darstellen wollten, so dass es mehr geerdet ist und mehr durch meine eigenen Lebenserfahrungen und Gefühle gefiltert wurde, als nur rein technisch zu denken und zu sagen, ‘Oh, ich muss in diesem Moment großartig klingen’.”

Zu den gesanglichen Entwicklung von Orliński gehört jedoch nicht nur Vivaldis Stabat Mater, sondern auch viele andere Projekte. Seine vorherigen Alben Anima Sacra (2018), Facce d’amore (2019) und Anima Aeterna (2021) zeigen die Offenheit und Neugierde des Countertenors, der es oft gewagt hat, mit seinen Programmen in unbekannte Gefilde vorzugehen und Werke zu interpretieren, von denen es eine sehr limitierte Diskografie gibt. So scheint es umso interessanter, wie Orliński sich nun an ein weltweit bekanntes Meisterwerk wie Stabat Mater heran wagt, das bereits viele Male eingespielt worden ist: “Mein Ansatz ist immer, dass ich nicht die Interpretationen anderer übernehme, denn ich habe mein eigenes Gefühl für das Stück. Natürlich hab ich auch Aufnahmen von anderen gehört, wie beispielsweise die von Andreas Scholl, die meiner Meinung nach die Beste aller Zeiten ist, und ich lasse mich auch von ihnen inspirieren, möchte sie aber nicht kopieren. Und gleichzeitig versuche ich auch nicht zwanghaft anders zu sein als andere Sänger. Ich mache einfach mein Ding und es ist mir egal, was andere Leute gemacht haben.”

©️ Honorata Karapuda

Nun vergleichen und analysieren Journalisten, Kritiker und Zuhörer eben gerne, welche Interpretationen oder Aufnahmen “besser” sind als andere, worauf Orliński jedoch sehr gelassen reagiert: “Wenn du Stücke aufnimmst, die sehr bekannt sind, wird es mit Sicherheit Leute geben, die sagen: ‘Oh, das ist großartig, fantastisch’, aber es gibt auch Leute, die sagen: ‘Oh, mein Gott, das ist ja schrecklich, das kann ich mir nicht anhören!’ Aber als Künstler, der für die Menschen auftritt und ihnen etwas mitgibt, muss man auf all die Liebe und all den Hass vorbereitet sein, denn es gibt beides.”

Wir gehören auf jeden Fall zu den ganz großen Fans! Orliński schafft es, eine neuartige Tiefe in die Aufnahme mit einzubringen, die sich besonders durch seine reichhaltigen Verzierungen der Vokalstimme bemerkenswert ausdrückt und dabei eine neue melancholische Dimension ermöglicht. Und auch wenn Orliński vielleicht jetzt noch zu den eher wenigen Countertenören in der klassischen Musik zählt, so lässt sich doch nicht abstreiten, dass seit einigen Jahren eine enorm anwachsende Popularität der Countertenöre und Barockmusik an sich zu verzeichnen ist. Gibt es dafür vielleicht einen bestimmten Grund?

“Ich kenne die perfekte Antwort nicht, aber aus meiner Sicht, was Barockmusik zusammen mit Countertenören und auch mit Barocksängern im Allgemeinen angeht, ist es einfach verrückt, was in den letzten Jahrzehnten mit der Countertenorstimme und ihrer Technik passiert ist. Und auch was die Anzahl der Orchester, die auf Tournee gehen und diese Musik aufführen, angeht. Es hat sicher etwas damit zu tun, wie die Barockmusik aufgeführt wird, nämlich auf extrem hohen Niveau. Aber auch durch die sozialen Medien sowie durch Leute, die diese Musik wirklich auf die nächste Ebene bringen und sie den Menschen außerhalb der Musikbranche zeigen. Denn Leute, die normalerweise keine Barockmusik hören, sind plötzlich auch daran interessiert, in ein Konzert zu gehen. Mit meinem Pianisten Michał habe ich zum Beispiel vor ein paar Jahren ein Konzert in Frankfurt gegeben, da waren so viele junge Leute, dass ich dachte, was passiert da, das ist verrückt! Und dann sind sie alle hinterher geblieben, um Hallo zu sagen, ein Selfie zu machen oder ein Autogramm zu bekommen, es war wirklich beeindruckend.”

Botschafter der Barockmusik, Tourneen und Konzerte, Studioaufnahmen, Musikvideos… Jakub Józef Orliński hat einen straffen Zeitplan und schafft es trotzdem, alles irgendwie locker leicht unter einen Hut zu bringen. Was ist sein Geheimnis? “Als Performing Artist habe ich sehr früh mit meinem Management über die Strategie für meine Karriere gesprochen, weil ich wusste, dass ich wirklich ein vielseitiger Künstler sein möchte und schon sehr früh erkannt habe, dass all diese Dinge parallel möglich sind. Bei mir sind das vier große Sachen, ich mache Opernproduktionen, Studioaufnahmen, Aufführungen mit Klavier und Aufführungen mit Orchester. Dazu kommen spezielle Projekte. Und ich versuche in einer Saison, so viele von diesen Sachen wie möglich einzuplanen, weil das sind alles völlig unterschiedliche Dinge und auch völlig unterschiedliche Befriedigungen und Glück und Erfüllung, die sich daraus ergeben.”

©️ Warner Classics & Erato

Na dann mal Hut ab, lieber Jakub! Eine Frage stellt sich uns dann aber uns noch zum Schluss: Bleibt denn bei all diesen Sachen überhaupt noch Zeit für seine zweite große Leidenschaft, das Breakdancen? “Ja! Ich versuche auf jeden Fall Zeit fürs Breakdancen zu finden, weil ich es wirklich für mein sowohl körperliches als auch mentales Wohlbefinden brauche. Besonders jetzt auf Tour bin ich ein bisschen frustriert, weil ich schon seit einer Woche kein richtiges Training mehr gemacht hab. Natürlich mach ich vor dem Singen immer körperliche Übungen, aber das ist nicht genug für mich. Von Zeit zu Zeit muss ich einfach mal runterkommen und ein bisschen breakdancen.”

Und während Jakub Józef Orliński in seinem Hotelzimmer hoffentlich etwas Zeit zum trainieren findet, so dürfen wir uns zurücklehnen und uns vollkommen in Vivaldi: Stabat Mater verlieren. Eben unsere Art, mal runterzukommen.

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