Hi-Res
Booklet
Ein leiser, zurückhaltender gebrochener g-Moll-Akkord, liebevoll lang, sanft und langsam über die Saiten gezogen – Augustin Hadelich eröffnet Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo mit einer atemberaubenden Schönheit und Besonderheit, wie sie selten in Aufnahmen dieses Everest des Violinrepertoires zu hören sind. Er weckt mehr als hohe Erwartungen und wer verkündet, dass Hadelich im weiteren Verlauf des Programms die anfänglichen Versprechen einlöst, untertreibt gewaltig. Das Projekt entstand während des Lockdowns im März 2020, als das Konzertleben zum Stillstand kam. Hadelich spielt bei dieser Studioaufnahme auf seiner gewohnten modernen Ausrüstung, seiner neu erworbenen Guarneri del Gesù von 1744, die einst Henryk Szeryng gehörte, aber, für ihn ungewöhnlich, mit einem leichteren und beweglicheren Barockbogen. Durch seinen sparsamen Einsatz von Vibrato – für Anhänger der barocken Aufführungspraxis undenkbar – schafft er eine weitere Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Und während ein Barockgeiger beliebig zusätzliche Verzierungen hinzufügen würde, hält sich Hadelich weitgehend an Bachs Partitur. Kurz gesagt, was Hadelich hier präsentiert, ist in Bezug auf Instrument und Spielweise eine Mischform zwischen barocker und moderner Aufführungspraxis. Das gilt auch für die Tempi. Betrachten wir noch einmal das Adagio der G-Dur-Sonate: Während es einerseits durch seine leichte, leise Anmut eindeutig in den Bereich der barocken Spielweise gehört, ist es mindestens eine Minute länger als die barocken Interpretationen von Isabelle Faust, Rachel Podger oder Giuliano Carmignola und ähnelt in dieser Hinsicht "modernen" Interpretationen von James Ehnes, Izhak Perlman oder Hilary Hahn. An anderen Stellen wiederum entsprechen die Tempi der historischen Aufführungspraxis, wie etwa das eröffnende Adagio der Sonate Nr. 3 in C-Dur und die berühmte Chaconne aus der Partita in d-Moll. Die Interpretation der Chaconne ist übrigens mit ihrer starken rhythmischen Dynamik, die bei 9'30” zu einem Abschluss kommt (in der Tat erinnern alle drei Partiten rhythmisch überzeugend an ihre tänzerischen Wurzeln), und koloristischen Farbtupfern wie etwa die kurze turbulente Bewegung bei 11'05” wunderschön. Ein weiterer Glanzpunkt ist die Partita Nr. 3, in der der hellere, strahlende Klang der Metallsaiten besonders gut zur Geltung kommt – in der Gavotte en Rondeau hören Sie, was ich meine. Lassen Sie uns nach diesem Vortrag über technische und koloristische Mittel und Aufführungspraxis auf den ersten g-Moll-Akkord zurückkommen: Was dieses gesamte Album letztlich zu einem so zauberhaften Hörerlebnis macht, ist die Vielfalt der Gefühlswelt. Tiefe Verzweiflung, leichter Humor, fröhliche Ausgelassenheit – Hadelichs Interpretation führt uns die menschliche Seele klar vor Augen. Und darum geht es bei dieser besonderen Musik, ganz gleich, ob man für das barocke Repertoire historische Aufführungspraxis oder moderne Spielweise bevorzugt. © Charlotte Gardner/Qobuz