Winterliche, weite Landschaften, majestätische Natur... Skandinavien wird oft auf die ewig gleichen Klischees reduziert. Beim Jazz ist es genauso. Dabei folgt der dänische Jazz gern der nordamerikanischen Tradition, in Norwegen ist man experimentierfreudig, während in Schweden unentschieden zwischen den Stilen manövriert wird. Trotz aller Unterschiede spricht man vom skandinavischen Jazz immer wie von einer großen Familie. Seit Anfang der 70er Jahre haben die Musiker, die aus der Kälte kamen, den Jazz durch ihre Originalität geprägt, die von der heutigen Generation weitergegeben wird. Lassen Sie uns diese Patchwork-Familie in den folgenden 10 Alben näher betrachten. Sie wurden ganz subjektiv aus einer Diskographie ausgewählt, die unermesslich ist wie ein Fjord.

Keith Jarrett – Belonging (1974)

Nein, Keith Jarretts Vorfahren waren keine Wikinger. Trotzdem umgab er sich Mitte der 70er Jahre in seinem berühmten europäischen Quartett mit zwei Norwegern und einem Schweden. Mit Jan Garbarek am Saxophon, Palle Danielsson am Kontrabass und Jon Christensen am Schlagzeug nahm er im April 1974 Belonging und im November 1977 My Song auf und ging 1979 mit ihnen auf Tournee (später sind drei Alben erschienen, die ihre Welttournee dokumentieren: das 1980 veröffentlichte, verrückte Nude AntsPersonal Mountains von 1989 und Sleeper aus dem Jahr 2012). Vielen Jazzfans begegneten in diesem Quartett – einem echten Quartett und nicht nur drei Handlanger für den Pianisten aus Allentown – zum ersten Mal nordische Jazzmusiker. Es stand im krassen Gegensatz zum amerikanischen Quartett, dem anderen Ensemble, das Jarrett damals leitete, mit Dewey RedmanCharlie Haden und Paul Motian, und lebte von Avantgarde und radikaler Improvisation. Auf Belonging wird Keith Jarrett von seinen skandinavischen Kollegen in einen melodischen und manchmal geradezu mystischen Sog aus Gospel (Long as You Know You're Living Yours) und Lyrik (Blossom) hineingezogen. Garbareks typisch europäischer Klang und seine Art zu artikulieren passen perfekt zum Klavier. Jeder Solist konnte hier seiner Virtuosität freien Lauf lassen (siehe Danielsons herrliches Kontrabass-Solo auf Spiral Dance). Diese Technik ist zwar in einer bestimmten nordamerikanischen Tradition verankert, lässt jedoch europäische Phrasierungen, Wendungen und Ausdrucksweisen erkennen. Allerdings könnte man sich fragen, ob Keith Jarrett unter den Mitgliedern des europäischen Quartetts nicht der europäischste war...

Terje Rypdal – Waves (1978)

Mit 30 veröffentlichte Terje Rypdal  dieses eklektische Album, das den Stil widerspiegelt, den er in den sechs vorangehenden Alben für das Münchner Label ECM entwickelt hat. Waves wurde im September 1977 in seiner Heimatstadt Oslo aufgenommen. Es gibt die elektrische Sprache des norwegischen Gitarristen wieder, der mit Einflüssen wie Jazz, Rock oder New Age jongliert. Mit seiner sechssaitigen Gitarre entwirft er weite Klangflächen wie einen betörenden Walgesang. Rypdals Jazz-Fusion lässt sich aber nicht nur von seinen englischsprachigen Kollegen inspirieren (Miles Davis auf Bitches Brew hat ihn sehr beeindruckt). Mit seinen Landsleuten, dem Bassisten Sveinung Hovensjø und dem Schlagzeuger Jon Christensen setzt er auf Sensorisches und Atmosphärisches, aber auch auf Synkretismus. Und um die Klischees vom abgehobenen und mystischen skandinavischen Virtuosen zu widerlegen, hat Terje Rypdal Palle Mikkelborg eingeladen. Der dänische Trompeter spielt hier eine zentrale Rolle. Nach einem eher verspielten, von einer Drum-Machine unterstützten Intro (Per Ulv) kehrt der Gitarrist in seine gewohnten kontemplativen Gefilde zurück (Karusell), stürzt sich aber auch Hals über Kopf in ein Rock-Inferno (The Dain Curse). Die enge Zusammenarbeit zu Mikkelborg bleibt während seiner gesamten Karriere bestehen.

Niels-Henning Ørsted Pedersen – Dancing on the Tables (1979)

Im letzten Jahrhundert, noch lange bevor das Label ECM skandinavien-süchtig wurde, hat ein dänischer Kontrabassist die internationale Jazz-Szene derart hypnotisiert, dass er zu einem der begehrtesten Sidemen seiner Generation wurde. Er spielte mit Koryphäen wie Sonny Rollins, Bill Evans, Ella Fitzgerald, Chet Baker, Roland Kirk, Dexter Gordon, Bud Powell, Stan Getz, Lee Konitz, Albert Ayler, Joe Pass, Michel Petrucciani, Tete Montoliu und Oscar Peterson, dessen letzter regulärer Bassist er war. Niels-Henning Ørsted Pedersen – NHØP für Freunde und Familie, aber auch für das breite Publikum –, der 2005 im Alter von nur 58 Jahren an einem Herzinfarkt starb, war auf seinem viersaitigen Instrument viel mehr als nur eine feste Größe. Man erzählt, dass der bärtige Riese mit 17 Jahren das Angebot ablehnte, in Count Basies Big Band einzusteigen, da er lieber im legendären Café Montmartre, DEM Jazzclub in Kopenhagen, spielte und dem Dänischen Rundfunkorchester beitrat. Er kannte die Grundsätze seiner großen Vorgänger Paul Chambers und Charles Mingus und war auf seinem Instrument sehr gewandt. Neben den vielen Auftritten zeichnete er regelmäßig unter seinem Namen auf. Seine Aufnahmen waren oft gewagt. Das vorliegende Album wurde im Sommer 1979 mit Dave Liebman an Tenor- und Sopransaxophon und Flöte, John Scofield an der Gitarre und Billy Hart am Schlagzeug, für das Label SteepleChase konzipiert. Vier der fünf Kompositionen, die durch ihre starken Basslinien und ihre klare Artikulation beeindrucken, stammen von NHØP – Meister der Harmonie –, der ihnen ein selten poetisches dänisches Volkslied (Jeg Gik Mig Ud en Sommerdag) hinzufügt. Dancing on the Tables zeigt insbesondere die Dichte seiner komplexen, aber eingängigen Improvisationen und seine Fähigkeit, den Stil zu verändern und sich dabei selber treu zu bleiben. NHØP war in jeder Hinsicht riesig. 

Jan Garbarek Group – It's OK to Listen to the Gray Voice (1985)

Jan Garbarek war zweifellos der erste skandinavische Musiker, dessen Stil sich deutlich von der afroamerikanischen Jazz-Tradition abhob. Der 1947 geborene Norweger hat den lange nachklingenden, eindringlichen und betörenden Klang seines Saxophons – ein einzigartiger, hypnotischer Walgesang – im Zusammenspiel mit Musikern wie Keith JarrettZakir HussainEgberto Gismonti oder den britischen Mitgliedern des Hilliard Ensembles in unterschiedliche musikalische Umgebungen eingebracht. Garbareks facettenreicher Ethno-Jazz auf It's OK to Listen to the Gray Voice, das im Dezember 1984 von der Jan Garbarek Group mit David Torn, E-Gitarre, Eberhard Weber, Bass und Michael Di Pasqua, Schlagzeug und Perkussion, für ECM aufgenommen wurde, ist von seltener Leuchtkraft. Die Lyrik des Saxophons findet in der Überschwänglichkeit und Radikalität der Gitarre (sie erinnert oft an Bill Frisell) einen perfekten Kontrapunkt, während die Rhythmusgruppe Weber/Di Pasqua den Kompositionen, in denen Jazz, Rock, New Age und Folkmusik zusammenfließen, eine solide Basis verleiht. Die Stücke sind von Gedichten des schwedischen Nobelpreisträgers Tomas Tranströmer inspiriert. Das passt gut, denn zweifellos ist Poesie die Kunst, die Jan Garbareks Musik am ähnlichsten ist.

Nils Petter Molvær – Khmers (1997)

Nils Petter Molvær, der bis dahin als Mitglied der Gruppe Masqualero bekannt war, faszinierte die Jazzwelt 1998 mit der Veröffentlichung seines ersten Soloalbums bei ECM (schon wieder!), das sich in dessen unerschöpflichen Katalog nur schwer einordnen lässt. Mit seiner gedämpften Trompete, die an den einzigartigen Klang von Miles Davis erinnert, erkundet der Norweger in einer Überschneidung von Jazz, Weltmusik und elektronischer Musik Neuland. Als großer Fan von Miles' elektronischer Periode wollte Molvær Bill Laswells Produktionen, den Trip Hop von Massive Attack, Stammesrhythmen der Weltmusik und die damals in England beliebten Drum'n'Bass und Jungle miteinander verschmelzen. Mithilfe von Samples und Drumcomputer erhalten die kleinen avantgardistischen Konstruktionen des Skandinaviers große melodische Sinnlichkeit. Und wir finden sogar einige wesentliche Merkmale von ECM auf diesem innovativen Album, das trotz des riesigen elektronischen Aufgebots ein Meisterwerk melodischer und rhythmischer Sinnlichkeit ist.

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