Fast zwei Jahre stand Hilary Hahn nicht auf der Bühne, bevor sie die Live-Einspielungen für “Eclipse” wieder ins Rampenlicht stellten. Fast wäre nichts aus dem Album geworden. Nun lässt die amerikanische Geigerin die letzten, pandemiebedingten Jahre Revue passieren und erzählt uns in einem exklusiven Gespräch über die Wiederentdeckung ihrer musikalischen Stimme.

Hilary Hahn blickt uns mit einem strahlenden Lächeln durch die Laptop-Kamera entgegen, sie hat auch allen Grund dazu: Neben einer langersehnten Mini-Europatournee erscheint ihr neues Album Eclipse in ein paar Tagen. Ein Projekt, mit dem sie durch “dick und dünn” gegangen ist — oder wie sie selbst behauptet: “Es war wie eine Feuerprobe!’’

Reflektierend aus der heutigen Sicht, hat alles seinen Weg gefunden, so wie er sein sollte. Manchmal braucht es ungeplante Ereignisse und Wendungen, die einen wieder “das Wesentliche” erkennen lassen. Doch kommen wir nicht darum herum, dass die letzten zwei Jahre einen Einschnitt in die musikalische Karriere der Geigerin markieren sollten. Aus einer einjährigen Auszeit wurden fast zwei Jahre ohne Auftritt und musikalische Isolation. Aus einer geplanten Tournee für die Live-Aufnahmen für Eclipse mit dem hr-Sinfonieorchester Frankfurt und Dirigenten Andrés Orozco-Estrada wurde eine künstlerische Entwicklung, die zur Hinterfragung und Neufindung ihrer selbst führte.

Dass sie heute das Album in der Hand hält, ist für Hilary Hahn alles andere als selbstverständlich und deshalb zelebriert sie diese Tatsache auch umso mehr. Wir durften Teil dieses feierlichen Moments werden und der Künstlerin ein paar Fragen stellen…

Dein Album wäre fast nicht zustande gekommen. Jetzt bist du hier und hältst es in deinen Händen. Wenn du zurückschaust — wie fühlst du dich?

Ich habe das Gefühl, dass dies ein Album war, bei dem ich eine Menge künstlerischer Entwicklung durchgemacht habe. Aber ich hatte bereits alle Mittel, um diese Entwicklung zu durchlaufen, ich wusste es nur noch nicht. Es ist wirklich schön zu sehen, dass es jetzt existiert und dass ich wieder auftreten kann. Auch außerhalb des Kontextes, in dem es entstanden ist, wirkt es immer noch besonders.

"Eclipse" wurde zu einem ungewollten Pandemieprojekt, in dem du dich aber musikalisch neu finden konntest. In deinem sehr ehrlichen und vielleicht auch selbstkritischen Booklet-Text schreibst du: "Die Wiederentdeckung meiner musikalischen Stimme fühlte sich an wie der Moment nach einer Sonnenfinsternis." Kannst du uns mehr darüber erzählen, wie du deine Stimme wiederentdecken konntest und war dies für dich notwendig?

Ich denke, dieses Album ist eigentlich eine Art wiederauflebendes Projekt und weniger ein Pandemieprojekt. Es wurde von Lockdowns geprägt, aber es fängt den Moment ein, in dem Musiker:innen wieder zusammenkommen, in dem wir unsere Stimmen vereinen und dann die Freude am Musizieren sowie die Kraft des Musizierens erleben. Die Texte, die ich geschrieben habe, betrachte ich nicht als selbstkritisch. Ich denke, sie beschreiben den Prozess, in dem ich mich in meinem Musizieren bestärkt fühlte, weil ich so lange alleine musiziert habe. Ich war die einzige Person in meinem Haus, die Musik machte. Also habe ich auch keine anderen Musiker:innen gehört. Ich nahm ein Jahr lang eine Auszeit, und die Hälfte davon war von COVID betroffen. Der größte Teil der nächsten Saison wurde gestrichen, und am Ende der zweiten Saison war ich überhaupt nicht mehr auf Tournee. Ich reiste dann nach Europa, um die Stücke in zwei Sessions einzuspielen.

Die Werke von Ginastera und Sarasate waren während der Aufnahmen neu für mich, ich hatte sie vorbereitet, aber... Werke offenbaren sich für mich immer, wenn ich sie zum ersten Mal im Konzert spiele. Und die Mikrofone haben das Konzert zum ersten Mal aufgezeichnet, sodass die Stücke sich unter einem wirklich intensiven Fokus offenbarten. Ich habe meinen Kollegen wirklich vertraut, dass sie mich auch auf dieser Reise partnerschaftlich begleiten.

Wie ist die Idee zu diesem Album entstanden und wie hast du dieses eher unkonventionelle Repertoire ausgewählt?

Ich habe mich in das Violinkonzert von Ginastera verliebt, ich war wie besessen (lacht). Der Gedanke daran hat mich nicht mehr losgelassen. Ich weiß nicht mehr, wie ich es zum ersten Mal entdeckt habe. Eines Tages war es da, aber ich kann mich nicht mehr an die Einführung erinnern. Ich wusste einfach, wie ich es spielen wollte. Es ist aus den 60er Jahren, und Ginastera lebt auch nicht mehr. Aber es ist fast wie eine Premiere, weil es so wenige Leute spielen. Ich bin derzeit die einzige Solistin auf der Welt, die es aufführt. Es fühlte sich an, als wäre es für mich geschrieben worden, als ich es hörte. Je mehr ich daran gearbeitet habe, desto mehr habe ich gemerkt, was für eine geniale Komposition das ist, die ganze Schichtung des Gedankengangs und des Schreibens ist einfach phänomenal. Meine Besessenheit hat sich also als richtig erwiesen (lacht).

Ich habe überlegt, mit welchen Kolleg:innen ich dieses Stück aufnehmen könnte. Mit dem hr-Sinfonieorchester Frankfurt bin ich bereits durch die ganze Welt getourt und habe jahrzehntelang mit ihnen gespielt, es gab also eine lange Geschichte. Ich kenne ihre Persönlichkeit, Fähigkeiten und Stärken und so dachte ich, sie wären großartig für dieses Stück. Außerdem habe ich im Laufe der letzten Jahrzehnte viel mit Andrés Orozco-Estrada zusammengearbeitet und kenne seine Stärken. Es ist wirklich großartig, an einem so komplexen Stück wie Ginastera mit Kollegen zu arbeiten, die ganz in die Materie eintauchen und sich mit zeitgenössischer Musik auskennen, z. B. mit der Spieltechnik dieser Musik, den Farben und der Verschmelzung von Texturen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Das Individuum und die Gruppe als Ganzes zu sehen, ist für das Ginastera-Stück sehr wichtig. Was das Dvořák Violinkonzert betrifft, ist es ausschlaggebend, auf welche Art und Weise das Orchester den Ton erzeugt und dass es mit einer Kombination aus rhythmischer Freiheit und Erdung gespielt wird. Andrés hat sich ausgiebig mit dem symphonischen Zyklus beschäftigt und liebt Dvořák, und ich hatte auch schon eine Weile darüber nachgedacht, ihn aufzunehmen, demnach hat dies wunderbar gepasst.

Was Sarasate angeht — dieses Stück habe ich geliebt, aber nie wirklich gelernt (lacht). Ich hatte eigentlich eine ganze Saison mit Konzerten von Ginasteras und Sarasates Werken geplant, die aber alle bis zu den Aufnahmen abgesagt wurden. Deshalb habe ich die Stücke in den Live-Aufnahmen zum ersten Mal gespielt, sonst hätte ich das nie gemacht! Andererseits habe ich dem Druck und der Intensität der Einspielungen eine gewisse Frische und Wärme entgegengesetzt. Die Carmen-Fantasie von Sarasate ist ein historisch und musikalisch faszinierendes Stück, das auch hervorragend für die Violine als Instrument geschrieben ist. Die Tatsache, dass es sich um ein Arrangement und eine Neuinterpretation der Arien einer einzelnen Figur handelt, sowie einige der Orchestermusiken der Oper, ist für mich ebenfalls sehr interessant. Andrés hat schon viele Opern dirigiert und deshalb konnte er mir hierbei sehr helfen. Wir haben im Laufe der Jahre viele Interpretationen zusammen erarbeitet, und er wusste, wie der Text und die Instrumentalmusik in der Oper zusammenhängen. Wir haben es geschafft, das Herz des Stücks in nur ein paar Tagen vor Ort herauszuarbeiten. Ich wusste einfach, dass das Hinzufügen der Fähigkeiten des Orchesters zwischen diesen beiden Konzerten die Virtuosität mit der Musikalität wirklich verbinden würde.

Die Violinkonzerte - die Kombination von Orchester und Soloinstrument - unterscheiden sich sehr von Sarasates opernhaften "Carmen-Fantasie". Gehst du anders an diese Stücke heran?

Ich versuche, sie zu vergleichen, denn bei einem Violinkonzert ist das Ausgangsmaterial das, was man spielt, in den Noten. Wenn es sich um ein älteres Konzert handelt, gibt es eine Tradition, über die man Entscheidungen trifft: Folgt man der Tradition? Weicht man davon ab, denkt man nicht darüber nach oder spielt man einfach das, was in einem steckt, in seiner eigenen Version? Es gibt einen Grund dafür, warum die Noten im ursprünglichen Material so sind, wie sie sind — ob man sich dabei wohlfühlt oder nicht. Man muss also selber entscheiden, wie man dies interpretiert. Und was bedeutet das emotional, technisch oder physisch?

Bei Sarasate ist es so, dass er ein großer Geiger war. Er war sehr stolz auf seine spanische Identität, die der Ursprung für vieles ist: die musikalischen Formen, die Bizet, der französische Komponist, für die Oper Carmen in französischer Sprache verwendet hat. Sarasate kennt das Ursprungsmaterial so gut, dass er ein Originalwerk für die Violine schreibt, und die Technik ist ganz und gar Violintechnik. Es ist nicht so, dass er die Oper nimmt und sie auf die Geige überträgt. Das passiert zwar bei den Melodien, aber er hat es so geschrieben, dass es sich wie originale Geigenmusik anfühlt. In diesem Fall steht man also vor der Entscheidung, ob man es sich geigentechnisch schwerer macht, indem man an den Text, die Stimmung, die Akzente und die Tempi der Oper denkt. Oder taucht man als Geiger:in ganz in das Stück ein, und jeder kennt die Bezüge sowieso? Was mich angeht, ich mag immer eine Herausforderung (lacht)! Lasst mich die Geigenvariante machen! Aber gleichzeitig sollten wir versuchen, der ursprünglichen Intention der Oper so nahe wie möglich zu kommen. Es ging mir darum, herauszufinden, wo die Artikulationen in der Stimme der Sänger:innen liegen, und versuchen herauszufinden, wie ich sie auf die Geige übertrage.

Auf dem Album gibt es ausschließlich Live-Aufnahmen, das erste Stück sogar ohne Publikum. Bereitest du dich auf Live-Einspielungen anders vor als auf Studioaufnahmen?

Live-Aufnahmen können diese wirklich besonderen Momente einfangen, die während einer Aufführung passieren und die man nicht künstlich erzeugen kann. Man geht mental anders an die Sache heran. Außerdem hat man Adrenalin im Körper, ein Hormon, das alles im Gehirn verändert und auch die Art, wie der Körper reagiert oder wie man Dinge wahrnimmt. Live-Auftritte sind also ein großartiges Element, aber man kann sie auch nicht planen (lacht). Man kann sich nicht einfach den Tag aussuchen, an dem alles zusammenpasst, also muss man sich wohlfühlen, wenn man auf der Kippe steht. Man muss wissen, worauf es bei der Zusammenarbeit ankommt und worauf man sich bei einem Auftritt mit diesen Kolleg:innen stützen kann. Aber als ich diese Aufnahme vorbereitete, kannte ich meine eigene Basis nicht mehr, weil ich schon so lange nicht mehr auf der Bühne gestanden bin. Ich habe also versucht, einfach darauf zu vertrauen, dass das, was ich hatte, solide und wertvoll war. Was auch immer ich für mich entwickelt hatte, würde sich zeigen. Das war eine wirklich wertvolle Lektion. Ich wusste es bereits, ich musste es nur erkennen. Ich wurde bis an die Grenze getrieben und war in diesem entscheidenden Moment, als wir alle wieder auflebten, am Limit meiner Fähigkeiten. Es war wirklich großartig, dass die Aufnahme so live aufgenommen wurde, denn es war wie der Moment, in dem das Streichholz entflammt. Und zu hören, wie alle zusammen spielen, hat die Welt wieder in einen Farbfilm verwandelt.

Eine andere Sache, die im Laufe der Aufzeichnungen passierte, war ein öffentlicher Live-Stream. Das war tatsächlich mein erster Live-Stream überhaupt! Mit meinen Kollegen in Konzertkleidung und mit einem Publikum, das live online zuhört, war das für mich auch eine Wiederbelebung. Als ich dann für die zweiten Aufführungen, also Ginastera und Sarasates Carmen-Fantasy, zurückkam, erfuhr ich in der Woche, in der ich das Dvořák Violinkonzert aufnahm, dass wir wahrscheinlich in der Alten Oper in Frankfurt sein würden! Es war auch als Andrés' letztes Konzert als Musikdirektor geplant, so dass es ein bisschen traurig gewesen wäre, nicht in der Oper zu spielen. Aber kurz vor dem Konzert erfuhr ich, dass sie das Publikum wieder einschränken mussten, also gaben wir statt einem, zwei Konzerte. Du siehst, es war ein ständiges Hin und Her, ob wir auf der Bühne stehen würden und vor Publikum spielen würden. Es war wie eine Feuerprobe. Nur, dass es sich um keine Probe handelte. Am Ende wurde es einfach zu etwas Stärkerem geformt.

Wenn du an diese Zeit zurückdenkst, gab es spezielle Personen oder Ereignisse, die dich ermutigt haben?

Als ich sagte, dass die Aufnahme fast nicht zustande gekommen wäre, habe ich sie im Grund genommen abgesagt, um sie noch ein bisschen zu perfektionieren, oder sie zu überdenken und das Ganze aus einer anderen Richtung anzugehen. Ich dachte, dass ich am Limit bin und die Situation nicht verlässlich genug ist und dass ich nicht sicher sein kann, die Aufnahme zu machen, die ich machen wollte. Meine Managerin hat mir geholfen, wir haben darüber geredet, sie kennt mich sehr gut. Ich habe auch mit Andrés und ein paar Freunden darüber gesprochen. Das wirklich Hilfreiche daran war, dass alle sagten: "Du musst das nicht machen. Es liegt an dir. Aber wenn du es machst, kannst du allen vertrauen, die da sind." Und das stimmte, also dachte ich, wir machen es! Schauen wir einfach, was passiert. Und dann wurde ich von “panisch” zu “super konzentriert” (lacht). Ich glaube, dass diese Konzentration auch etwas war, das die Aufnahme so besonders macht, denn ich hatte nichts anderes zu tun. Ich habe mich einfach gänzlich in die Stücke vertieft, mit dem Ziel, dieses eine bestimmte Konzert zu spielen.

Glaubst du, du hättest die gleiche musikalische Entwicklung gemacht, wenn es die Pandemie nicht gegeben hätte?

Ich hätte es auch geschafft, vielleicht sogar langsamer. Ich war bereits auf diesem Weg. Eigentlich war das, was passiert ist, der Zweck meiner geplanten Auszeit, auch wenn ich es nicht wusste. Meine Pause diente also dazu, zu verstehen, wo ich als Künstlerin stehe. Wenn man innehält, kann man die Arbeit aus dem Kontext betrachten. Man ist begeistert von Projekten, die man zwei Jahre im Voraus plant, die dann zu weiteren Projekten führen, und plötzlich, zehn Jahre später, ist man sich nicht sicher, ob alles, was man macht, auch das ist, was man will oder nicht. Aber durch diese Projekte und Erfahrungen entwickelt man sich als Mensch weiter. Ich habe versucht, ab und zu einen Schritt zurückzutreten, um mich neu zu orientieren und mit mir selbst ins Reine zu kommen. Darum ging es also letztendlich bei meiner Auszeit. Und gleichzeitig mit der Pandemie gab es in den USA eine Menge Erkenntnisse über soziale Gerechtigkeit für viele Leute, eine Menge Enthüllungen und Weckrufe für Menschen, die sonst vergessen wurden. Ich habe auch eine Menge gelernt und beschlossen, meine eigene Arbeit zu unterbrechen, um die Dinge besser zu verstehen, denn ich glaube, Kunst ist für alle da. Sie ist für alle Stimmen da, und sie sollte die Zeit, in der wir leben, zum Ausdruck bringen. Sie sollte die Menschen dort erreichen, wo sie sind.

Ich hatte das Gefühl, dass ich unbedingt herausfinden musste, wo meine Wissenslücken lagen, und versuchen musste, die Menschen besser zu verstehen. Ich habe sechs Monate gebraucht, um mich darauf zu konzentrieren. Das war eine emotionale Herausforderung, besonders während der Lockdowns, denn ich habe zwei kleine Kinder und ich hatte nicht die Möglichkeit zu spielen. Es hat mir geholfen, all diese Prozesse zu verarbeiten, aber es war auch eine Art Druckkessel. Auf der Bühne verarbeite ich alles, was passiert. Da sortiere ich die Dinge, da kläre ich sie, drücke ich mich aus, verbinde mich mit mir, entwickle mich weiter. Und ohne das habe ich fast zwei Jahre lang nach Orten gesucht, um Erfahrungen loszulassen und sie in etwas Neues zu verwandeln, aber ich hatte keinen Ort. Es wurde für mich immer nebliger und nebliger. Und in dieser Auszeit wurde mir klar, was ich gelernt habe, was mein Antrieb ist, was meine Mission ist, was mein Grund ist, aufzutreten. Ich habe immer gedacht, dass es vielleicht etwas anderes gibt, das ich tun könnte. Ich habe alles ausprobiert, was mir einfiel, aber nichts war wirklich dasselbe. Für mich war es eine Art existenzieller Erkenntnis, dass ich wirklich das bin, was ich bin. Und das ist, was ich wirklich tun muss. Gebunden an das Gefühl einer größeren Verbundenheit mit der Welt.

Das Interview wurde geführt von Lena Germann, 30. September 2022.

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