Anlässlich ihres neuen Albums « Powerful Vulnerability » bei MPS durften wir mit Julia Kadel sprechen. Ein intimer Austausch und ein emotionales Projekt, auf dem wir die Künstlerin auf ungefilterte Weise kennenlernen können.

Julia Kadel ist bereits seit über zehn Jahren eine gefeierte Pianistin, sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene. Die Berliner Künstlerin, die sich am Anfang ihrer Ausbildung zuerst einem Psychologiestudium widmete, hat sich « glücklicherweise » daraufhin doch für ihre Leidenschaft zur Musik und zum Jazz entschieden, und zwar mit großem Erfolg. Nach zahlreichen Preisen und Stipendiaten erschien ihr Debütalbum Im Vertrauen (2014) bei keinem anderen Label als Blue Note/Universal, gefolgt zwei Jahre später von Über und Unter, woraufhin sie sich vollends einen beachtlichen Namen in der Jazzszene, auch über die Landesgrenzen hinaus, machte. Neben etlichen Soloprojekten ist Kadel vor allem auch in den unterschiedlichsten Formationen und musikalischen Kooperationen zu erleben, nicht zuletzt mit dem von ihr angeführten Julia Kadel Trio.

Seit ihrem Album Kaskaden (2019) gehört zur neuen Generation des ikonischen Jazzlabels MPS und durfte dafür im mystischen Schwarzwald-Analogstudio aufnehmen. Nun präsentiert sie uns das Nachfolgeprojekt Powerful Vulnerability und spielt seit letztem Jahr mit ihrer neuen Trio-Formation mit der deutsch-griechischen Kontrabassistin Athina Kontou sowie dem US-amerikanischen Drummer Devin Gray.

Powerful Vulnerability zeigt Kadel von ihrer verletzlichsten und stärksten Seite zugleich. Die letzten Jahre der Pandemie sowie persönliche Ereignisse sind auch an der Pianistin nicht spurlos vorbeigegangen. Konzerteverbot, Social Distancing, Liebeskummer… Kadel behandelt in ihrem neuen Album ihre inneren Emotionen und scheut sich nicht davor, diese zu zeigen und zu thematisieren: « Verletzlichkeit ist für mich ein Schlüssel zu mehr Stärke ». Wir durften uns mit ein paar Fragen an die junge Jazzpianisten richten und erhielten einen intimen Einblick in die Entstehungsgeschichte des Albums sowie persönliche Erfahrungen der letzten Jahre…

Julia Kadel Trio 1
© David Dollmann

Nach Kaskaden (2019) folgt jetzt dein zweites Album « Powerful Vulnerability » auf dem legendären Jazzlabel MPS. Im Gegensatz zum letzten Album, welches du im ikonischen Analogstudio im Schwarzwald aufgenommen hast, wurde dieses hier in den Hansa Studios in Berlin eingespielt. Wie war diese Erfahrung für dich?

Im Hansa Studio aufzunehmen, war eine tolle Erfahrung. Ich habe dort bereits ein Mal als ich 16 Jahre alt war für eine große Pop-Produktion vorgespielt, die dann aber doch nicht stattgefunden hat. Seither hatte ich den Traum, dort eines Tages mal meine eigene Musik aufzunehmen. Ich liebe die Atmosphäre dort. Es war natürlich anders als im analogen Schwarzwaldstudio aufzunehmen, es lief keine Bandmaschine im Hintergrund, das verändert den Aufnahmeprozess, und die Wände sind nicht mit Schwarzweiß-Fotografien geschmückt. Aber das Hansa Studio birgt natürlich seinen eigenen historischen Berliner Flair in sich. Wir haben uns sehr wohl gefühlt in dem 60er Jahre Ambiente des Studios. Der Sound war auf Anhieb super, was wir aber natürlich nicht nur dem Raum, sondern auch der Soundingenieurin Nanni Johansson zu verdanken haben. Wir hatten zwei Aufnahmetage, um das ganze Album einzuspielen, so dass wir sehr konzentriert und intensiv bei der Sache waren. Es hat uns viel Spaß gemacht und ich war stolz, dort zu sein.

Auf dem neuen Album spielst du das erste Mal in deiner neuen Formation mit der griechisch-deutschen Kontrabassistin Athina Kontou und dem US-amerikanischen Drummer Devin Gray zusammen. Wie kam die Kooperation zustande?

Devin kannte ich bereits von einer Session, nach der ich dachte, ich will mit ihm spielen. Wir sind musikalisch verschwistert und ich liebe seinen Sound und seine Sensibilität zu reagieren und zu hören. Athina kam etwas später dazu, sie kenne ich musikalisch schon seit vielen Jahren aus ihren eigenen Projekten und fand sie schon immer spannend. Als ich auf der Suche nach einem neuen Artist am Bass war, kam sie mir direkt in den Sinn. Athina bringt ihre eigene Klangwelt und ihre Gedanken in meine Kompositionen hinein und bereichert das Trio enorm. Mich berührt ihr Spiel auf eine ganz besondere Art und Weise, die ich nicht in Worten beschreiben kann.

Wie würdest du eure Gruppendynamik beschreiben — sowohl im Studio als auch auf der Bühne?

Generell bin ich schon der Leader des Projekts, ich bringe Kompositionen und Ideen mit und dann gibt es auch immer wieder Gespräche außerhalb der Bühne über Leben und Musikmachen ganz allgemein. Das ist eine gute Grundlage für uns, zusammen Musik zu kreieren. Auf der Bühne sind wir sehr aufmerksam und offen für den Moment. Wir lernen uns auch weiterhin noch mehr kennen, das hört ja nie auf. Die Spezifika und typischen Funktionen unserer Instrumente spielen natürlich auch eine Rolle, aber das kann ich nicht verallgemeinern, wer sich tendenziell wie verhält. Wir sind alle drei sehr unterschiedlich, spirituell und energetisch, und das macht es gerade spannend beim Spielen. Im Studio haben wir unsere unterschiedlichen Energien in die Musik einfließen lassen, dabei war es manchmal gut, wenn mir jemand von den anderen gesagt hat, wann wir eine Pause brauchen. Pausen sind so wichtig im Leben und vor allem auch für die Musik.

Julia Kadel Trio 2
© David Dollmann

Wenn du das Album in drei Worten beschreiben müsstest, welche würdest du wählen und warum?

Verletzlich, ungefiltert, powerful.

Woher hast du in den letzten — nicht unbedingt einfachen Jahren für Künstler*innen — die Kraft für deine musikalische Inspiration genommen?

Zunächst erstmal aus meinen engen Beziehungen mit meiner Familie und meinen Freund:innen und deren Liebe und Unterstützung, aus der Nähe zu ihnen, die meistens im kleineren Kreis noch möglich war. Paradoxerweise aber auch aus genau den Dingen, die passiert sind - dem social distancing und dem Vermissen von anderen und der Nähe zu ihnen, aus dem Liebeskummer, den ich hatte und der merkwürdigen Schönheit der neu gewonnenen Stärke, die sich in der Musik für mich aufgetan hat. Aber es gab auch Phasen, wo ich nicht gespielt habe, weil ich müde war von all’ dem, was nicht ging. Vor allem das Schließen der Venues war hart - als ob die Kunst, die wir kreieren, auf einmal nichts mehr Wert sei, nicht mehr gebraucht würde. So hat es sich manchmal angefühlt. Und daraus haben sich neue, tiefere Fragen für mich gestellt, warum, wofür und für wen ich Musik mache. Das Album hat mich durch diese Jahre begleitet wie ein klangvoller Begleiter, der in jeder Lebenslage Klänge gefunden hat, wo ich selbst eher verstummt und in mich gekehrt war. Die Stücke, die ich in den letzten Jahren geschrieben habe, waren eine Transformation hin zu etwas Neuem, Kraftvolleren, egal wie schmerzvoll und verletzlich ihr Ursprungsgedanke war.

Was bedeutet « Powerful Vulnerability » für dich?

Verletzlichkeit ist für mich ein Schlüssel zu mehr Stärke. Wenn ich mich verletzlich zeige, geht das mit Gefühlen der Unsicherheit, Angst, der Kraftlosigkeit, Fragilität und Ungewissheit einher. Ich bin verletzlich und kann mich darin mehr so nehmen wie ich bin, mit all’ meinen Makeln. Und genau darin liegt eine Kraft, ein gutes Potenzial wie eine Hoffnung hin zu mehr Stabilität, neuem Mut und einer stärkeren Verbundenheit zu sich selbst und somit auch zu anderen. Dadurch, dass ich mich verletzlich geben kann, können andere wichtige Dinge über mich erfahren und ich über sie. Das führt zu einer tieferen Verbundenheit und mehr Vertrauen an Stelle von Misstrauen inmitten einer Kultur des Beschämens und einer toxischen Fehlerkultur in unserer durchkapitalisierten Gesellschaft. Ich wünsche mir noch mehr Räume, in denen sich Menschen verletzlich zeigen können.

Du wurdest dieses Jahr auf dem Deutschen Jazzpreis mit dem Sonderpreis der Jury für dein Projekt « Queen Cheer — Community for « Jazz » and Improvised Music » ausgezeichnet, zusammen mit Erik Leuthäuser, Laura Winkler und Friede Merz. Aus welcher Intention heraus ist dieses Projekt entstanden und welchen Stellenwert hat deiner Meinung nach die Queer Community im Jazz?

Ich habe realisiert, dass ich mich etwas allein fühle in meiner Realität als queerer Artist in der Jazzwelt und den Musikszenen in Deutschland. Ich habe mal überlegt, wie viele andere queere Artists ich in der Jazz- und Improvised Music-Szene eigentlich so kenne, und mir sind genau nur vier andere eingefallen. Das ist zu wenig. Vor allem hatte ich einfach ein Bedürfnis nach mehr Austausch, mehr Zusammenhalt und Synergie bei gemeinsamen Themen und habe mich nach mehr geteilter Realität mit anderen gesehnt. Dabei geht es uns nicht nur um den Kampf gegen Queerfeindlichkeit in der Musikwelt, sondern auch um ein Netzwerk und ein Verbünden, so dass wir uns gegenseitig unterstützen und wissen: « Ich bin nicht allein in dem, was ich erlebe und wie ich mich fühle ». Wir wollen ein neues Festival ins Leben rufen, um queere Artists zu veranstalten und um einen neuen Wind in die Szene hineinzuwehen. Wir hinterfragen die bestehende Norm, die besagt, dass man weiß, heterosexuell und cis-männlich sein muss, um in der Musikszene erfolgreich zu sein. Es ist überfällig, nicht mehr nur von « Männern » und « Frauen » zu sprechen und an Erscheinungsbild, Persönlichkeit, Verhalten und Lebensführung ein starres Korsett der Bewertung anzulegen. Queersein kann nicht mehr ignoriert werden, wir befinden uns alle auf einem Spektrum der Individualität und sind letztendlich Körper in einem Raum. Wir wünschen uns kreative Räume des Respekts, in denen sich alle Körper sicher fühlen können; Räume, die für alle gleichermaßen offen stehen und vorbereitet sind. Die Musikwelt kann nicht vom Rest des Lebens, von Identität, Sexualität und anderen Lebensrealitäten abgetrennt werden, sie entsteht aus dem Leben heraus.

Was sind deine bzw. eure weiteren Projekte für die Zukunft?

Wir sind dieses und nächstes Jahr auf Tour mit unserem neuen Album. So eine Aufnahme ist immer auch eine neue Basis für weitere Ideen und neue musikalische Erlebnisse als Trio. Es stehen Konzerte an und ich hoffe, dass wir auch noch mehr im Ausland spielen werden. Zum ersten Mal wird unser Album auch in den USA und anderen Ländern veröffentlicht, mal schauen, was die Zukunft noch bringen wird. Ich freue mich außerdem auf weitere anstehende Projekte als Soloartist sowie Kollaboration mit anderen interdisziplinären Artists.

Das Interview wurde von Lena Germann geführt.