Ein Retter verlorener Partituren der Renaissance? Unersättlicher Forscher, der in europäischen Bibliotheken unermüdlich auf der Jagd nach kunstvoller Polyphonie des frühen Mittelalters ist? Herausgeber der ersten Opern-Aufnahme einer Komponistin (Francesca Caccini)? Das alles ist Paul Van Nevel: Musikwissenschaftler, Zigarrenliebhaber, Kunsthistoriker und seit 1970 im Wesentlichen musikalischer Leiter des Huelgas-Ensembles. Kleine Gourmet-Tour durch Van Nevels musikalisches Universum.

Auch mit 72 Jahren scheint unser unverwüstlicher belgischer Dirigent mit der Zigarre im Mund noch nicht an den Ruhestand zu denken. Zusätzlich zu seiner Tätigkeit als Lehrbeauftragter an der Musikhochschule in Hannover und Gastdirigent des dänischen Rundfunkchores und des niederländischen Kammerchores leitet er vorbildlich das künstlerische Schicksal seines Ensembles, wofür es immer viel zu tun gibt. Als Experte für die Notation Alter Musik und intimer Kenner von Ars subtilior und Polyphonie hat er sein Ensemble nach der Zisterzienserabtei unweit von Burgos in Spanien benannt. Ein Name, der in der Welt der alten Musik Respekt genießt. Mit den musikalischen Glanzpunkten der Polyphonie vom Frühmittelalter bis zur Renaissance als Kernstück seines Repertoires vertraut, hat das Huelgas Ensemble ein wahres Kaleidoskop an seltener Musik rekonstruiert. Den Programmen entsprechend werden ausgezeichnete europäische Sänger sorgfältig ausgewählt. In den 1970er Jahren waren Sänger mit den gesuchten Qualitäten nicht leicht zu finden. Heute reißen sich viele darum, mit dem belgischen Dirigenten, dieser eher diskreten Ikone der Alten Musik, zusammenzuarbeiten.

Van Nevel weiß, dass die beiden Epochen, in denen er sich ganz zu Hause fühlt, bei der Wiederentdeckung der Alten Musik nie im Vordergrund standen und auch in Zukunft nicht an erster Stelle stehen werden. Die einzige Chance, in diesem Bereich zu überleben, liegt daher in der künstlerischen Exzellenz. Wenn man einmal miterlebt, wie eine Sopranistin verunsichert die Probe verlässt, weil das geringste Vibrato extrem unnachgiebig verfolgt wurde, kann man die Bedeutung der fachkundigen Auswahl von Ensemble-Mitgliedern mit absolut perfekter Intonation - im Studio und erst recht im Konzert - ohne Pardon verstehen. Wie Seiltänzer, die in der Lage sind, die komplexesten Rhythmen mit rarer sprachlicher Intelligenz zu reproduzieren – ein wesentliches Element für die lebendige Gestaltung der manchmal sehr strengen Polyphonie. Van Nevel erzählt manchmal leicht spöttisch, wie Sänger, die bei ihrem Vorsingen als erstes nach dem Klavier fragten, gleich wieder nach Hause geschickt wurden.

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