Auch nach 50 Jahren gilt “Innervisions” immer noch als kultureller Meilenstein. Es ist der Sound eines jungen Künstlers, der ins Erwachsenalter eintritt und sein gesellschaftliches, politisches und kulturelles Engagement offenbart.

1973 fanden in den Vereinigten Staaten einige große Veränderungen statt. Der Vietnamkrieg ging zu Ende. Der Watergate-Skandal erschütterte die Regierung Nixon, und politische Korruption veranlasste den Rücktritt von Vizepräsident Spiro Agnew. Mit dem Urteil Roe v. Wade wurde das staatliche Abtreibungsverbot aufgehoben, wodurch für Frauen eine neue Ära begann. Die USA nahmen ihre erste Raumstation in Betrieb und erlebten zur gleichen Zeit eine Ölkrise. Und “Little” Stevie Wonder veröffentlichte im Alter von 23 Jahren, sein 16. Album, Innervisions, das die Unruhe der Zeit widerspiegelte und einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Musik haben sollte.

Das Album erschien auch während einer Zeit des Wandels für das Label Motown, das Wonder seinen beruflichen Einstieg ermöglicht hatte, als es ihn als 11-Jährigen unter Vertrag nahm. Nach den Unruhen in Detroit im Jahr 1967 zog Motown nach Los Angeles. Und einer seiner größten Stars, Marvin Gaye, distanzierte sich 1971 mit seinem bahnbrechenden What’s Going On von den süßlichen R&B- und Soul-Hits des Labels. Die aufrüttelnden Botschaften des Titeltracks – eine leidenschaftliche Verurteilung der Polizeigewalt – und Mercy Mercy Me (The Ecology), einer der ersten Mainstream-Hits, die Sorge über den Zustand unserer Umwelt zum Ausdruck brachten, bewegten Wonder zutiefst.

Im Folgenden erfahren Sie, wie die fünf wichtigsten Titel auf Innervisions entstanden sind – und warum sie uns heute noch etwas zu sagen haben.

“Living for the City”

Gayes Einfluss ist in dem Klassiker Living for the City deutlich spürbar. Der mehr als 7 Minuten lange Song handelt von einem schwarzen Jungen aus Mississippi, der mit Armut und Diskriminierung kämpft. Nachdem er zugesehen hat, wie seine Mutter für andere Leute die Böden schrubbt und sein Vater für “kaum ... einen Dollar” 14 Stunden am Tag arbeitet, beschließt er, angesichts seiner eigenen ungewissen Zukunft (”To find a job is like a haystack needle/ ‘Cause where he lives they don’t use colored people”), sich der zweiten “Great Migration”-Welle anzuschließen und in New York City ein neues Leben zu beginnen.

Der Fender Rhodes beginnt zunächst etwas schwermütig und sorgt durch seine Schwenks für eine gewisse Irritation, dann setzt der TONTO-Synthesizer hell und strahlend ein – ein Zeichen der Hoffnung. (Übrigens waren die TONTO-Entwickler Malcolm Cecil und Robert Margouleff an der Programmierung des Instruments beteiligt und haben das Album gemeinsam mit Wonder produziert).

Im Mittelteil verwandelt sich das Lied in einen kurzen Einakter: Man hört, wie der Bus nach New York City anhält und ihn mitnimmt ... in ein Leben mit einem unfreiwilligen Verbrechen und einer 10-jährigen Gefängnisstrafe. Samples von lauten Straßen, Sirenen und dem Zuschlagen einer Zellentür sorgen für Hochspannung.

Wonders Bruder Calvin Hardaway übernimmt die Rolle des zu Unrecht beschuldigten jungen Mannes, während Tourneedirektor Ira Tucker Jr. den Drogendealer spielt, der ihn reinlegt. Stevies eigener Anwalt, Jonathan Vigoda, stellt den Richter dar, der ihn wegschickt. Ein Hausmeister der Plattenfirma spricht die berühmte Zeile – die Hauptfigur wird beschimpft und in eine Gefängniszelle geschickt –, die Public Enemy später in Black Steel in the Hour of Chaos sampeln sollte.

Es ist ergreifend, wie sich Wonders Stimme an dieser Stelle verändert, von seiner gewohnten weichen und sanften Art zum Growl eines abgeklärten Bluessängers, während er die schlechte Nachricht ausspricht:

“His hair is long, his feet are hard and gritty/ He spends the life walking the streets of New York City/ He’s almost dead from breathing in air pollution”, singt er – der Anklang an Gaye ist nicht zu überhören. Einst lebte der Mann begeistert “für die Stadt”, jetzt lebt er “gerade noch genug für die Stadt”.

Es ist ein Schlag ins Gesicht und – vier Jahrzehnte vor der Black-Lives-Matter-Bewegung – ein Weckruf, der der Welt zeigen möchte, wie brutal es sein kann, in Amerika schwarz zu sein.

“I hope you hear inside my voice of sorrow/ And that it motivates you to make a better tomorrow/ This place is cruel, nowhere could be much colder/ If we don’t change, the world will soon be over/ Living just enough, stop giving just enough for the city”, endet Wonder.

Auch in musikalischer Hinsicht ist der Song ein Meisterwerk. Ein sattes Stück Funk, Soul und Blues, das nach einer ganzen Band und einer Gruppe von Backgroundsängern klingt. Aber mit Ausnahme der oben erwähnten Stimmen ist alles von Wonder. Er ist am Klavier, am Schlagzeug, am Moog-Bass, am TONTO, er spielt die hohen und tiefen Harmonien, ja sogar die Handclaps – und übt einen unwiderstehlichen Einfluss auf einen gewissen Prince Rogers Nelson aus.


“He’s Misstra Know-It-All”

Auch mit dieser schönen Ballade trifft Wonder den Nerv der Zeit – trotz der zart fließenden “Flötenklänge” (in Wirklichkeit das TONTO) ganz offensichtlich eine Verurteilung des in Ungnade gefallenen Präsidenten Richard Nixon aus der Watergate-Ära: “He’s the man with a plan/ Got a counterfeit dollar in his hand/ He’s Misstra Know-It-All.”

Der Song besteht aus einer vielschichtigen Charakterstudie eines Music-Man-ähnlichen Betrügers, der sich auch angesichts überzeugender Beweise hartnäckig weigert, zuzugeben, dass er sich geirrt hat.

“When you say that he’s livin’ wrong

He’ll tell you he knows he’s livin’ right

And you’d be a stronger man

If you took Misstra Know-It-All’s advice, ooh, ooh”

Während Willie Weeks – der einzige andere Musiker neben Wonder in dem Song – einen eleganten Bass-Groove hinlegt und ein Gospelchor (in Wirklichkeit alles Overdubs von Wonder) schmachtet, wird Wonder bei der Drei-Minuten-Marke energischer und betont mit Handclaps den halben, Viertel- und vollen Beat. Hören Sie, worum es hier wirklich geht, das vermittelt er, ohne es direkt auszusprechen.

Wonders Powerhorn-Funkstück You Haven’t Done Nothin’ aus dem Jahr 1974 (”But we are sick and tired of hearing your song/ Tellin’ how you are gonna change right from wrong”) mit den Jackson 5 als Backgroundsänger, wirkt wie eine Fortsetzung.


“All in Love Is Fair”

In Wonders Privatleben war auch viel los. Hier dokumentiert er das Ende seiner zweijährigen Ehe mit Syreeta Wright - einer talentierten Singer-Songwriterin, die mit Billy Preston zusammenarbeitete und in Wonders Signed, Sealed, Delivered (I’m Yours) als Backgroundsängerin mitwirkte.

Die nach Johnny Mathis klingende Ballade beschreibt das Scheitern einer Beziehung, die nicht hielt, was sie versprach, durch eine Reihe von Klischees: “All is fair in love/ Love’s a crazy game ... All of fate’s a chance/ It’s either good or bad/ I tossed my coin to say/ In love with me you’d say/ But all in war is so cold.”

Über die Jahre haben einige diese Themenwahl kritisiert, während andere argumentierten, Wonder habe es so geschrieben, um auf diese schmerzliche Art zu zeigen, dass Klischees auch wahr sein können.

Während dieser Song – mit Scott Edwards am Bass – später von charmanten Leuten wie Shirley Bassey, Nancy Wilson und Dionne Warwick gecovert wurde, entwickelte er sich bei Barbra Streisand, die ihn mehrfach aufnahm – das erste Mal auf The Way We Were im Jahr 1974 – zu einem Markenzeichen.

Stevie Wonder in einer Werbung für den Mu-Tron II, ein Filter für Synthesizer-Spezialeffekte, in einer Musikzeitschrift von 1974.
Stevie Wonder in einer Werbung für den Mu-Tron II, ein Filter für Synthesizer-Spezialeffekte, in einer Musikzeitschrift von 1974.

“Higher Ground”

Ein freudiger Glanzpunkt von Innervisions, Higher Ground, war auch der höchstplatzierte Single des Albums und erreichte in den Billboard Hot 100 Platz 4.

Wonder scheint eine göttliche Eingebung gehabt zu haben, denn er hat das Stück in nur drei Stunden geschrieben und aufgenommen. Auch hier spielt er alle Instrumente selbst und erzeugt den unvergesslichen Wah-Wah-Clavinet-Sound mit einem Mu-Tron III-Pedal und den funkigen Bass mit einem Moog.

Higher Ground feiert die Idee der Reinkarnation: “I’m so darn glad/ He let me try it again/ ‘Cause my last time on Earth/ I lived a whole world of sin/ I’m so glad that I know more than I knew then/ Gonna keep on tryin’/ ‘Til I reach my highest ground” (Es ist auch eine Anspielung auf Martin Luther King Jr.’s Botschaft der politischen Transzendenz und seinen “Aufruf, nach Höherem zu suchen”.)

Der Text erhielt eine tiefere Bedeutung, als Wonder nur wenige Tage nach dem Erscheinen des Albums in einen Autounfall mit einem mit Baumstämmen beladenen Lastwagen verwickelt wurde: ein Stamm flog durch die Windschutzscheibe und traf Wonder am Kopf, so dass er vier Tage lang im Koma lag.

Das erste Zeichen der Genesung erschien, als Tourdirektor Ira Tucker (derselbe, der den ausbeuterischen Drogendealer in Living for the City spielte) sich zu Wonder hinabbeugte und begann Higher Ground zu singen.

“Seine Hand lag auf meinem Arm und nach einer Weile begannen sich seine Finger im Takt des Liedes zu bewegen”, erinnerte sich Tucker später. “Ich sagte: ‘Yeah! ‘Yeeeeaaah! Der Junge wird es schaffen!’”

Die Genesung war mühsam, und Wonder sagte später, er halte den Unfall nicht für einen Zufall. Wonder, der kurz nach seiner Geburt sein Augenlicht verloren hatte, erzählte der New York Times, diese Erfahrung habe ihm “die Ohren für so vieles um ihn herum geöffnet.”

Er erzählte der Zeitung auch, dass Higher Ground zwar vor dem Unglück entstanden war, aber “irgendetwas hat mir wohl gesagt, dass etwas passieren würde, das mir viele Dinge bewusst machen und mich aufrichten würde. Es ist wie eine zweite Chance für mich, in meinem Leben etwas zu tun oder mehr zu tun, und die Tatsache wertzuschätzen, dass ich lebe.”

1989 sorgten die Red Hot Chili Peppers mit einer Slap-Bass-Coverversion von Higher Ground für einen unvergesslichen Moment der Popkultur.


“Don’t You Worry ‘bout a Thing”

Auch das lateinamerikanisch angehauchte Don’t You Worry ‘bout a Thing vermittelt eine positive Botschaft – eine 1973er Version der Betonung des Positiven.

“Don’t you worry ‘bout a thing, mama,” verspricht Wonder. “‘Cause I’ll be standing on the side/ When you check it out.”

Der Song beginnt mit einem lebhaften, verspielten Mambo-Keyboard und einer Melodie, die an Horace Silvers Song for My Father erinnert, während Wonder angeberisch prahlt und versucht, eine Frau zu beeindrucken, indem er ihr erzählt, er sei in Paris, “Irak, Iran, Eurasien” gewesen und spreche “fließend Spanisch”: “Todo ‘stá bien chévere”, gurrt er – im Grunde ist alles sehr cool – bevor sie seine Aussprache korrigiert.

Stevies Klavierpart, dessen Rhythmus sich an Tito Puentes Ran Kan Kan anlehnt (siehe Steve Lodder in Stevie Wonder: A Musical Guide to the Classic Albums), ist hier ein wahres Wunderwerk, ebenso wie Sheila Wilkersons Bongos.

Innervisions Innenhüllen-Illustration von Efram Wolff, mit freundlicher Genehmigung der Universal Music Group
Innervisions Innenhüllen-Illustration von Efram Wolff, mit freundlicher Genehmigung der Universal Music Group

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