Mit der Veröffentlichung seines neuen Albums Exiles, einer Reflexion über das Exil mit dem Baltic Sea Orchestra, hat sich der ikonoklastische Pionier der neoklassischen Bewegung Max Richter einmal mehr als einer der politisch engagiertesten Künstler der Musikszene positioniert. Selten hat ein Künstler eine so suggestive Instrumentalmusik geschaffen, die klassische und elektronische Musik, physische und emotionale Welten miteinander verbindet.

Max Richters Ziel ist es, mit seiner Musik die Welt auf den Kopf zu stellen. Ehrgeizig? Nicht so sehr. Denn er weiß nicht, wie man etwas anderes macht. Für den in einem kleinen Dorf in Niedersachsen geborenen Engländer ist die Musik seit Beginn seines Lebens etwas, das er nicht ablegen kann. „Ich habe mit dem Komponieren begonnen, bevor ich wusste, was Komponieren ist. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, hatte ich schon immer Lieder im Kopf, die ich umgestalten wollte, ein bisschen wie ein Kind, das mit Lego spielt. Ich habe das ständig gemacht, aber ich wusste nicht, dass man das Songwriting nennt. Es war eine unterbewusste Sache, und ich habe lange gebraucht, um es zu realisieren.“

Der junge Max Richter, der in Bedfordshire, nördlich von London, aufgewachsen ist, ist von Natur aus mit einer Art Überempfindlichkeit gegenüber Klängen ausgestattet und spürt die Auswirkungen von Musik körperlich mehr als andere. Aber wenn es für ihn gut ist, muss es auch für andere gut sein? Mitte der 1980er Jahre setzte der Weltenbummler sein Studium in Schottland fort, an der renommierten Universität von Edinburgh, der Stadt, die er heute als seine „Heimat“ betrachtet, bevor er an die Royal Academy of Music in London ging. Doch erst in Italien eröffnete Max Richter sein musikalisches Spektrum endgültig. Er ging nach Florenz, um bei Luciano Berio zu studieren, dem italienischen Pionier der elektroakustischen Musik und Gründer des Studio di Fonologia musicale, einer Art GRM nach italienischem Vorbild, das sich für konkrete, serielle und/oder elektronische Musik in der Tradition der Werke von Karlheinz Stockhausen und John Cage interessierte.

Fasziniert von den Beatles und Bach, „seinen Zwillingsstars“, aber auch von Kraftwerk, die ihn mit der gefilterten Basslinie von Autobahn („Es war, als würde man vom Blitz getroffen“) zur elektronischen Musik bekehrten, ist der Engländer von Berios brillantem Denken geblendet. „Ich hatte noch nie jemanden wie ihn getroffen. Eines Tages legte ich ihm eine Komposition von mir vor und es war, als ob er meine Gedanken lesen würde. Es war sogar ein bisschen beängstigend, denn er konnte sehen, was auf der Seite stand, aber auch, was ich beim Schreiben machen wollte. Er konnte die Absichten hinter meinen Kritzeleien lesen, das war erstaunlich.“

Eintauchen in den britischen Elektro

Diese italienische Ausbildung drängte ihn aus der Enge des Konservatoriums heraus und nach seiner Rückkehr nach England gründete er seine erste Gruppe, Piano Circus, ein Ensemble von sechs Pianisten, das ursprünglich gegründet wurde, um Steve Reichs berühmtes Stück Six Pianos zu spielen, und mit dem er eine Reihe von Platten für Argo/Decca produzieren sollte. Aber zu diesem Zeitpunkt schhlug Richter schon wieder einen anderen Weg ein. Er verließ das Ensemble, um sich The Future Sound Of London anzuschließen, die 1996 ihr Album Dead Cities veröffentlichten. Das legendäre Elektronik-Duo Garry Cobain und Brian Dougans aus Mancunia, das ihn als Pianisten engagiert hatte, war von seiner Persönlichkeit überzeugt und gab ihm mehr Raum zur Enfaltung als erwartet. Er hat sich sogar selbst einen Titel gegeben, ein großartiges Ambient-Stück mit dem Titel... Max. Sechs Jahre später, 2002, kehrte er nach einem Freelance-Job für den Produzenten Roni Size, der den Drum'n'Bass aufmischte, als Mischer, Co-Produzent und Co-Autor des nächsten FSOL-Albums, The Isness, zurück.

Im selben Jahr wagte er sich mit Memoryhouse zum ersten Mal auf ein Soloalbum. Eine Platte, die, wie immer, aus den Tiefen seines kreativen Hirns geboren wurde, das ständig dabei ist, Musik zu manipulieren. Und natürlich eine Platte, damit er sich gut fühlt. „Ich habe diese Lieder geschrieben, um meine Gedanken zu beruhigen, ich musste sie loswerden. Ich wusste nicht einmal, ob es von Musikern gespielt werden würde." Zu dieser Zeit, 1998-99, liefen in den Fernsehnachrichten weltweit Bilder des Kosovo-Konflikts und mehrere Titel des Albums nehmen darauf Bezug (Sarajevo, Arbenita oder Last Days). Das Album, das vom BBC Philharmonic Orchestra aufgenommen wurde, enthält auch das Meisterwerk November, ein ergreifendes und berauschendes Stück, das zwölf Jahre später unter dem Titel The Departure Suite zum Thema von Damon Lindelofs ebenso großartiger HBO-Serie The Leftovers werden sollte. Ein wichtiges Werk der neoklassischen Strömung, mit vermeintlich elektronischen Einflüssen wie dem flüchtigen Warpian-Beat auf Untitled (Figures) oder dem Dröhnen von Garden (1973)/Interior, bei dem die Stimme von John Cage ein Gedicht deklamiert.

Damals blieben die Aufnahmen jedoch unbemerkt. Keine Presse, keine Konzerte (das Album wurde erst 2014 im Barbican Centre zum ersten Mal live gespielt), aber hervorragendes Feedback von seinen Komponistenkollegen. Weit davon entfernt, niedergeschlagen zu sein, machte sich Richter ohne Druck und voller Freiheit an die Arbeit an einem zweiten Album, The Blue Notebooks, das diesmal vom Golfkrieg beeinflusst wurde. „Als ich sah, dass es kein Feedback gab, dachte ich: 'OK, niemand hört mir zu, das heißt, ich kann weiter machen, was ich will, weil es niemanden interessiert.' Und das ist seither meine Einstellung. Für The Blue Notebooks gab es kein Budget, aber ich hatte ein Label, das interessiert war, FatCat.“ Das im englischen Brighton ansässige FatCat, ursprünglich ein auf den Import von amerikanischem Techno und House spezialisierter Plattenladen, hat sich einen Namen gemacht, indem es Künstler wie Sigur Rós, Múm, Animal Collective und Frightened Rabbit auf den Plan gerufen hat.

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