Wie wird aus einer Heldin eine Superheldin? Als Judith Holofernes ihre ganz besondere Herde suchte, die sie bei ihren Songs begleiten sollte, ging es ihr nicht um den großen Erfolg oder das, was man damit assoziiert. Sie träumte davon, ihre eigenen Songs in die Welt hinauszutragen. Mit Wir sind Helden, deren Debütalbum “Die Reklamation” vor genau 20 Jahren direkt auf Platz 6 in die deutschen Albencharts einzog, hatte die Frontfrau und Songwriterin ihren Traum verwirklicht. Doch wie macht man dann weiter?

Die Reklamation (eines der meistverkauften deutschen Alben mit Doppel-Platin) öffnete einer jungen Band, die sympathischer, authentischer und kreativer nicht hätte sein können, den Weg zum Erfolg. “Wir waren niedlich und wunderbar”, gesteht Holofernes selbst. So niedlich, dass sie und ihr damals zukünftiger Ehemann Pola Roy (natürlich heiratet eine Superheldin den Drummer ihrer Band!) vor der Berliner Polizei am Görlitzer Park davonliefen, da sie dachten, Konzertplakate dort aufzuhängen sei verboten.

Wenn ich heute die ‘Die Reklamation’ höre, finde ich wenig Hübsches und Ordentliches. Stattdessen Spielfreude und einen Überschuss an kreativen Schnapsideen. Ich bin völlig einverstanden mit dem Sound unseres Erstlings und weiß, dass unser unwahrscheinlicher Erfolg genau in dieser Balance zwischen Unvermögen, Rotzigkeit und Schliff begründet liegt.

Für eben diesen Sound sorgte der Berliner Musikproduzent, Tontechniker und laut den Helden das fünfte Bandmitglied Patrik Meyer (ebenfalls Produzent von Nina Hagen, Rosenstolz, Nick Cave and the Bad Seeds). Doch der ein bisschen nach Neue Deutsche Welle, Beat und Elektro-Punk klingende Sound des Albums wäre ohne die klugen Texte von Judith Holofernes wohl nur wie eine leere Luftblase gewesen. Sozial- und Konsumkritik vermischen sich mit einer Verweigerungshaltung gegenüber der Ausbeutung in der Musikindustrie. Manchmal neckisch und immer mit einem spitzen Ton leiten die Songs von Judith Holofernes und ihren Mitstreitern eine Art des neuen Protestsongs ein, wobei sie einen eher auf nette Art auf die Problematik des Weltgeschehens hinweisen, als die Wände einzuschlagen.

Erfolgreich vor dem ersten Plattenvertrag

Hinter ihrem ersten DIY-Videoclip zur Single Guten Tag, den die Helden bei MTV einreichen konnten, verbarg sich kein anderer als Walter Holzbauer und sein Team des Wintrup Musikverlags - laut Holofernes “einer der wenigen Musikverlage, die etwas taugten”. Sie ist heute davon überzeugt, dass sich das Wintrup-Team an die MTV-Studio-Tür gekettet haben musste, um das Video an den Mann zu bringen.

Wenn der erste Plattenvertrag einer Band in einer Phase entsteht, wo sie bereits im Radio rauf und runter gespielt werden, dann kann der Erfolg nur heldenhaft werden. Dann ist ihnen des Künstlers höchstes Gut gesichert: ihre Freiheit. Oder nicht? Das Video von Denkmal repräsentiert genau diese Freiheitsphase der Helden, in der sie von Liebe, Luft und (sogar) von Musik lebten und auch die Liebe zu ihrem Nightliner, mit dem sie auf Tour gingen und der nicht einmal besonders komfortabel war. Aber sie hatten den Spaß ihres Lebens, schmissen ihr Studium hin und widmeten sich letztlich voll und ganz ihrem Heldentum.

Holofernes gestand vor einigen Jahren im Interview mit Markus Lanz, dass immer alles zu schnell gegangen sei. Wenn der Headliner bei Rock am Ring ausfiel, sprangen die Helden ein und Holofernes sei gerade einmal froh gewesen, ihre Gitarre richtig herum halten zu können. Jörg Thomann feierte die Band vor 20 Jahren in seinem Artikel für die FAZ als “die Popband, die einen rasanten Aufstieg hingelegt hatte” und stellte sich die Frage, ob sie es schaffen würden, gleichermaßen “als Avantgarde gefeiert zu werden und beim Mainstream anzukommen”. Heute kennen wir die Antwort. Zurecht gestand er aber damals besorgt: “Mit einem gewissen Bangen fragt man sich, wie es wohl weitergehen mag mit den ‘Helden’, die dem Ruhm nun nicht mehr ausweichen (konnten).” Auch diese Frage können wir heute beantworten.

Judith Holofernes wollte eine richtige Songwriterin, ein Popstar werden, ohne zu wissen, was dieser Begriff eigentlich für sie bedeutete. Als Teenager las sie Boris Vian auf Französisch, ja sogar die Geschichten aus ihrer Kinderbibel fand sie spannend, wollte Hitze erzeugen wie die Ramones und fing an, in ihrer zweiten Heimat Freiburg Straßenmusik zu machen. In ihren jugendlichen Tagträumen saß sie mit Bowie, Iggy und Costello am Tisch und rauchte eine Zigarette mit Patti Smith.

Judith Holofernes ist kein Mensch, der gesellschaftliche Regeln einfach so übernimmt, ohne sie zu hinterfragen. Wie kann man dann seinen Frieden in einer harten Welt wie dem Musikgeschäft finden? Dieses “Warum sollte ich” und “Muss ich immer alles, was ich kann?”, fragte sie sich bereits in ihrem Song Müssen nur wollen. Sie verweigert hier hymnenartig die Philosophie der Startup-Generation: “Wir können alles schaffen”, reimt sie auf “dressierte Affen”. “Mit ihren gesellschaftskritischen Songs hat sich Holofernes jeglicher Dressur entzogen und es dennoch geschafft”, hieß es damals in der FAZ. Ja, aber …

Auch Held(inn)en blicken manchmal in den Abgrund

Einige Jahre und Alben später (Von hier an blind 2005, Soundso 2007 sowie Bring mich nach Hause 2010) gelangten Wir sind Helden an einen Punkt, an dem es nicht mehr weitergehen konnte. Seitdem sie sich im Jahr 2000 bei einem Bandworkshop in Hamburg kennengelernt hatten, lebten Judith Holofernes, Pola Roy, Mark Tavassol und Jean-Michel Tourette in drei verschiedenen Städten. Bei ihrem dritten Studioalbum Soundso war Holofernes hoch schwanger. Die Bandmitglieder erlebten alle die Schwierigkeit, ihr Heldendasein mit dem Privatleben zu vereinen. Das Touren mit mittlerweile zwei Kindern im Gepäck brachten die Frontfrau und ihren Drummer einige Jahre später an ihre körperlichen und mentalen Grenzen. Holofernes wusste irgendwann, dass “sie keine Heldin mehr sein wollte”.

2012, nach dem Ende von Wir sind Helden, musste sich die Autorin dieser Heldensage die Frage stellen: Wie macht man aus einem Märchen ein echtes Leben?

In ihrer Autobiografie Die Träume anderer Leute (2021) widmet sie sich dem Rückblick auf alle Puzzleteile ihres bisherigen Lebens und nimmt die Leserinnen und Leser mit zu ihren Achterbahnfahrten auf der Suche nach ihrem wahren Ich. Dabei schreckt sie nicht davor zurück, die harte Realität des Musikbusiness offenzulegen. Kann man gleichzeitig Rockstar und Mutter sein? Und ab wann ist man eigentlich zu alt dafür? Dabei steht die immer dringender werdende Frage im Raum, “ob es nicht eine andere Art gibt, Popmusikerin zu sein und es dennoch in einer weiterhin kommerziell verwertbaren Form zu tun.”

Fragen, auf die Holofernes nicht mal eben schnell eine Antwort herbeizaubern konnte und die ihr viel Kraft und Introspektion abverlangten. Trotz ihrer engen Zusammenarbeit mit dem aus Heldenzeiten vertrauten Walter Holzbauer sowie ihrem Produzenten Ian Deavenport (Supergrass, Gaz Coombes) konnte sie sich von dem Druck und den Erwartungen ihrer Plattenfirma nicht lösen. Ihr Soloalbum Ein leichtes Schwert, das sie 2014 veröffentlichte (eigentlich das zweite nach ihrem noch vor den Helden veröffentlichten Kamikazenflug 1999) war nicht radiotauglich, passte weder zu einem neuen Image des Popstars noch in die Zielgruppe der Indiefans. Gleichzeitig sollte es aber genau das sein. Ihr lang ersehntes Comeback als Solokünstlerin, für das sie so viel Schneid und Überwindung aufgebracht hatte, ging nicht so über die Bühne, wie sie es sich vorgestellt hatte. Ihre Wut über sich selbst wurde immer größer: “Ich war wütend (...), dass ich wieder hier gelandet war, dass ich es immer noch nicht geschafft hatte, diesen Beruf oder mich selbst zu transformieren …” Spätestens bei der Echo-Preisverleihung, bei der sie sich mehr als fehl am Platz fühlte, offenbarte sie: “Und ich weinte still und leise um mich und meine sanften Träume, die ich für das hier verraten hatte.”

Von Chaos, Kampf und Befreiung

Holofernes lässt ihren Traum aber nicht los und findet schließlich einen Weggefährten, der sie bis zu den Färöer-Inseln reisen lässt, Teitur Lassen. Es entwickelte sich eine innige Songwriterfreundschatf (ein neues Album und spätere Singles), in der beide exakt dieselbe Sprache zu sprechen schienen. Innerhalb einer Woche, in der es nicht ein einziges Mal dunkel wurde, kehrte Holofernes mit einer ganzen Tasche voller neuem Demo-Material zurück. Sie bewegte sich damit schon ein kleines Stückchen mehr in Richtung die “richtige Richtung zur Verwirklichung ihres Solo-Traums”.

Dieses neue Album Ich bin das Chaos (2017) wurde zu einem Familienunternehmen, da es kein anderer als Pola Roy produzieren sollte, wenn auch mit großer Skepsis seitens seiner Frau. Dieser neue Sound, den sie direkt von den dänischen Inseln importierte und mit Lassens Arrangements für ein “Imaginary Doomsday Orchestra” veredelte (glasklare Bläser, strahlende Streicher…), brachte sie zur Vollendung ihrer schönsten Klangvorstellungen. Zu einem Album, das sie ganz selig machte. Und auch hier standen ihr wieder all die schlechten Zahlen im Nacken, Herr Waltrup, der sie immer noch treu unterstützte und ihr doch wieder vermittelte, dass sie ihr Glück eigentlich gar nicht fühlen dürfte. Wenn auch Ich bin das Chaos keinen traurigen Grundtenor an den Tag legt (schon gar nicht Charlotte Atlas oder Unverschämtes Glück), springt einem beim Opener Der letzte Optimist die tiefste Traurigkeit geradezu ins Gesicht. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen in ihrem heimeligen Familienstudio kämpfte sie um jeden Ton, den sie mit ihrer anfälligen Stimme noch herauspressen konnte.

© Marco Sensche
© Marco Sensche

All das Umgehen körperlicher Anzeichen von Überfordert-, Überarbeitet- und Ausgelaugtsein der letzten Jahre hatte auch für eine Superheldin schwerwiegende Folgen. Ihre Gesundheit war schon seit jungen Jahren sehr labil. Dass ihr so anfälliger Körper 2017 aber aus eigener Kraft eine schwere Meningitis bekämpfte (ehe die Ärzte dahinter kamen und sie dem Tod quasi bereits eigenständig entkommen war) kann wohl nur am Heldinnen-Zauber liegen. Als kurze Zeit später auch noch der Held an ihrer Seite an den Depressionen eines Burn-outs zu zerbrechen schien, blieb es fraglich, woraus sie wieder neue Kraft schöpfen konnte. Vielleicht half ihr die Tatsache, endlich einen Ausweg für diese belastende Zwiespältigkeit ihres Künstlerinnendaseins gefunden zu haben: die Plattform Patreon, mit der sie seit 2019 ihren eigenen Podcast Salon Holofernes finanziert und ihre Kunst frei, selbstbestimmt, crowdfunding-basiert und ohne das Musikbusiness im Nacken in engem Kontakt und Austausch zu ihren treuesten Fans ausleben kann!

“Mit großer Sicherheit”, sagte Pola Roy vor 20 Jahren in einem Interview, “werden wir in einem Jahr keinen Bock mehr haben, so zu sein, wie wir heute sind.” Niemand wird wahrscheinlich der Mensch sein, der er heute ist. Holofernes beweist aber mit ihrer Musik und ihrer Karriere, dass es sich lohnt, der Musik seines Herzens zu folgen. Dass man - ob Popstar oder Normalsterblicher - sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann, um dem ein Stückchen näher zu kommen, der man wirklich ist. Und das zeichnet wohl eine wahre Heldin aus.