Eine zeitgemäße klassische Musiktradition ist fester Bestandteil der ukrainischen Kultur. Gerade in der schweren Zeit des russischen Angriffskrieges ist sie ein Medium von Identifikation, Zusammenhalt und Trost und wird weltweit für viele Bühnen neu entdeckt.

Schon lange hat ukrainische Musik ihren Weg auf die Weltbühnen gefunden. Seit dem russischen Angriff Anfang 2022 wird sie vielerorts stärker wahrgenommen und öfter gespielt. Als Würdigung der Kultur, Kommunikation, Solidaritätsbekundung und oft auch Spendensammlung. Der Auslöser bleibt eine Tragödie.

Ukrainische Komponisten und ihre Zeit

Manche erlebten eine andere Zeit. Vitaliy Hubarenko (* 1934) etwa zählt bis heute zu den viel gespielten klassischen Komponisten seiner Heimat. Als er im Jahr 2000 in Kiew starb, war sein Land auf einem guten Weg, nach dem Zerfall der Sowjetunion erreichte es 1991 seine Unabhängigkeit. Hubarenko, zu dessen Werken Sinfonien, Opern und Ballettmusik zählen, konnte kaum ahnen, dass zwei Jahrzehnte später russische Bomben auf seine Heimatstadt Charkiw fallen würden. Komponist Myroslaw Skoryk (* 1938), der 2020 starb, erlebte seine Heimat drei Jahrzehnte als unabhängig, allerdings auch die Annexion der Krim 2014 und den damit verknüpften Konflikt. Skoryk komponierte für Oper und Orchester, Ensembles und Film. Sehr bekannt ist das orchestrale Kleinod Melody aus dem Kriegsdrama The High Pass. Oft vorgetragen wird außerdem das folkloristisch beeinflusste Hutsul Triptychon.

Borys Ljatoschynskyj
Mykola Lysenko
Vasyl Barvinsky

Einige frühere Komponisten finden sich ebenfalls bis heute in den Konzertprogrammen. Mykola Lyssenko (1842–1912) lebte während des russischen Zarenreiches, in dem es bereits ein verstärktes Bewusstsein einer ukrainischen Identität gab. Er studierte einige Zeit in Leipzig und gründete in Kiew eine der frühen Ausbildungsstätten für Musik in der Ukraine. Die Gedichte von Nationaldichter Taras Schewtschenko und ukrainische Volkslieder waren wesentliche Einflüsse für ihn. Unzählige Lieder bearbeitete er für den Konzertvortrag mit Gesang und Klavier. Eines der größeren Konservatorien der Ukraine, die Lysenko National Music Academy in Lviv, wurde nach ihm benannt. Manche seiner Klavierstücke, etwa die Ukrainische Suite g-Moll und die erste und zweite Ukrainische Rhapsodie, spielte er selbst oft in Konzerten.

Wassyl Barwinskyj (* 1888) verarbeitete in seiner Musik oft heimische Folklore. Das brachte ihm während der Stalindiktatur zehn Jahre Lagerhaft ein und die öffentliche Verbrennung seiner Kompositionen. Auslöschen konnte dies sein Werk nicht. Erst 2018 erschien eine Klaviereinspielung der Musikerin Violina Petrychenko mit seiner Ukrainian Suite und Cycle Of Love. Verschont von Repression und Zensur blieb auch Borys Ljatoschynskyj (* 1895) nicht. Er musste etwa Teile seiner dritten Sinfonie mehrmals ändern. Das Bournemouth Symphony Orchestra spielte 2018 mit seinem ukrainischen Chefdirigenten Kirill Karabits die Originalkomposition von 1951 ein, dazu die Sinfonische Dichtung Grazhyna. Barwinskyj starb 1963, Ljatoschynskyj 1968. Ihre Werke überdauern.

Die Gegenwart: Musik trotz allem

In Zeiten des Krieges stiftet Musik Trost und Zusammenhalt. Es kommt nicht von ungefähr, dass überall die ukrainische Hymne zu hören ist. Oder dass das Kyiv Classic Orchestra mit Dirigent Herman Makarenko am 9. März auf dem Maidan Werke von Lyssenko, Konstantin Dankevich, Semen Hulak-Artemowskyj sowie den Folksong Nich Yaka Misyachna („Welch mondhelle Nacht“) spielte – und die Europahymne. Menschen spielen Musik oft noch in U-Bahn und Luftschutzbunker, und sie nehmen sie mit an die Orte, an die sie inzwischen zu Millionen geflohen sind.

Doch die Kultur nimmt schweren Schaden – und manchmal auch die Künstler selbst. So fand Hanna Hawrylez im Alter von 63 Jahren den Tod, drei Tage nach dem russischen Angriff. Die etablierte Komponistin und Professorin, die lange in Kiew lebte und dort am Konservatorium lehrte, konnte wegen der Kämpfe nicht rechtzeitig medizinisch versorgt werden, sie starb an einem Aneurysma. Ihr Choral für Streicher war am 8. April 2022 Teil eines bemerkenswerten Online-Benefizkonzertes der Lviv National Philharmonic mit Dirigent Volodymyr Syvokhip, gemeinsam mit Werken von Lyssenko, Skoryk, Yakiv Stepovyi, Yurii Lanyuk, Volodymyr Pasichnyk, Bohdan Sehin und Bohdana Froljak.

© Adriana Skoryk

Yuri Shevchenko (* 1953) verstarb 68-jährig am 24. März 2022 an einer Lungenentzündung, auch ihm hätte eine rechtzeitige Versorgung wohl geholfen. Er komponierte für Musical, Ballett, Theater und Film. Sehr bekannt ist das Orchesterstück We Are („Wir sind“), dessen melodisches Thema der ukrainischen Hymne entstammt. Im Oktober schließlich fiel Jurij Kerpatenko dem Krieg zum Opfer. Der 46-Jährige war Dirigent mehrerer Orchester in Cherson, das ab März von russischen Militärs besetzt war. Als die Besatzer verlangten, er solle ein von ihnen für Oktober angesetztes Konzert dirigieren, weigerte er sich. Er wurde zu Hause erschossen.

Diejenigen, die es nicht derart schwer trifft, werden mit der harten Realität konfrontiert. Jewhen Stankowytsch (* 1942) komponierte Zeit seines Lebens für Orchester, Ballett, Ensemble und Chor. Als er 13 Jahre alt war, starb Sowjetdiktator Stalin, als er 49 Jahre alt war, wurde die Ukraine unabhängig. Mit 79 Jahren erlebte er den Überfall durch Putins Truppen. In den 1960er-Jahren studierte er bei Ljatoschynskyj und Skoryk und entwickelte seitdem die ukrainische Musik wesentlich mit weiter, unter anderem mit 6 Sinfonien und 15 Kammersinfonien. Ein bekanntes Stück ist Ukrainian Poem, das er 1997 für Klavier und Violine verfasste und bald für Violine und Orchester arrangierte. Eine ungewöhnliche Geschichte hat sein folkloristisches Opernballett When The Fern Blooms („Wenn der Farn blüht“). Bereits in den 1970er-Jahren verfasst, wurde es in der Sowjetunion verboten. Erst 2011 wurde es in Konzertform uraufgeführt und kam 2017 an der Staatsoper Lviv erstmals vollständig auf die Bühne. Stankowytschs fünf Jahre älteren Zeitgenossen Walentyn Silwestrow (* 1937) hielt es nicht in seiner Heimat. Er machte sich mit seiner Tochter auf den Weg nach Berlin. Neben mehreren Sinfonien komponierte er Werke für Klavier, Chor und Ensembles. Sie finden oft ihren Weg auf die Weltbühnen.

© Marco Caselli

Blick nach vorn

Gerade jetzt wird ukrainische Musik entdeckt. Die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv und Keri-Lynn Wilson, familiär mit der Ukraine verbunden, nehmen sie in ihre Programme. Lyniv initiierte 2016 das Youth Symphony Orchestra of Ukraine, Wilson gründete im Frühjahr 2022 als Antwort auf den russischen Angriff das Ukraine Freedom Orchestra, in dem ukrainische Musiker vieler Orchester mitwirken. Ihre vielbeachtete erste Benefiztournee führte im Juli und August durch Europa und die USA. Es soll weitere Konzertreisen geben. Im Frühling und Herbst 2022 tourte das Kyiv Symphony Orchestra mit seinem italienischen Chefdirigenten Luigi Gaggero in Europa.

Einen Einblick in ausgewählte Werke ermöglicht seit 2020 auch die App „Ukrainian Live Classic“. Das Team um Taras Demko hat damit von Lviv aus bereits zahlreiche Werke verbreitet, als Tondatei, Video und Partitur. Vor Ort organisieren sie seit März 2022 außerdem Konzerte. Im Einsatz für internationale Kooperationen in allen Kulturbereichen ist das Ukrainian Institute in Kiew. Eine der bisher weniger bekannten Komponistinnen ist Ludmila Yurina (* 1962), die bei Jewhen Stankowytsch am Konservatorium in Kiew studierte und sich für zeitgenössische Musik engagiert. Sie war „Composer in Residence“ an der Musikakademie Rheinsberg, lehrte in Kiew, Stuttgart und in Fort Worth, wo sie ukrainische Festivals organisierte. Die Ukraine erlebt eine sehr schwere Zeit, aber fest steht: ihre Kultur bleibt.

*Beitrag aus dem Fono Forum/Februar 2023. Das monatlich erscheinende Magazin Fono Forum bietet mit seinen Rezensionen, Artikeln und Interviews einen umfassenden Blick über die neuesten Plattenerscheinungen sowie das Musikgeschehen der Genres Klassik und Jazz.