1975, nach einer Reihe von Platten, die von Kritikern und Publikum verschmäht wurden, erhob sich Bob Dylan mit dem Album “Blood on the Tracks” aus der Asche. Ein Blick zurück auf die Entstehung dieses Meisterwerks.

Im Jahre 1974 erleidet die Sagengestalt Bob Dylan einen erheblichen Schaden. Dieser ehemalige Prophet der Sixties, dessen Standesgenossen sich jedes einzelne seiner neuen Alben andächtig anhören, studieren, auseinander nehmen, egal ob sie nun John Lennon, Mick Jagger, Jimi Hendrix, Donovan, Roger McGuinn, Johnny Cash oder Neil Young heißen, wird nun allen Ernstes als gestrig abgetan. Und das schon seit einer gewissen Zeit… Nachdem er nacheinander drei von all den Meilensteinen des vorhergegangenen Jahrhunderts veröffentlicht hatte (Bringing It All Back Home, 1965, Highway 61 Revisited im gleichen Jahr, dann das legendäre Doppelalbum Blonde on Blonde 1966), hat er die Fans vor den Kopf gestoßen, als er das hervorragende John Wesley Harding herausbrachte, diese eindeutig anti-psychedelische Platte, wo doch gerade dieses Genre in jenem Jahr 1967 das Sagen hatte. 1969 dann war es sozusagen ein Country-Album (das immerhin recht schöne Nashville Skyline), das schließlich dazu führte, dass er nicht in seine Zeit passte. Geradeso als ob der Künstler bewusst von seiner Epoche Abstand zu nehmen suchte (was er auch machte, als er sich auf dem Lande, in Woodstock niederließ) und so entfernte er sich letztendlich von all dem, was damals in Mode war. Deswegen ist er jedoch nicht steril geworden – einen ziemlich eindeutigen Beweis dafür liefern die viele Jahre später erschienenen Basement Tapes, die er mit The Band zum gleichen Zeitpunkt erstellte. Später wurde es jedoch noch schlimmer.

Am Anfang des neuen Jahrzehnts, und zwar zwischen 1970 und 1973, veröffentlichte Seine Majestät drei dermaßen mittelmäßige Alben („Was soll der Scheiß?“ fragte der angesehene Journalist Greil Marcus im allmächtigen Rolling Stone angesichts des 1970 erschienenen Self Portrait, auf das zwei ebenso missratene Alben folgten, New Morning noch im selben Jahr und das verhängnisvolle Dylan im Jahre 1973), dass sich seine Fans allmählich fragten, ob der Barde nicht dabei ist, seine Karriere schlicht und einfach in Grund und Boden zu versenken. Die hübsche, innerhalb weniger Stunden mit The Band gebastelte Platte Planet Waves wurde 1974 ein glatter Reinfall, bevor dann eine lange Tournee mit seinen neu interpretierten, früheren Hits zu einem unerwarteten Live-Album führte, Before the Flood, das einen willkommenen Erfolg feierte. Was sollte er aber danach tun?

Es ist die Zeit des Glamrock mit T. Rex und Bowie, die Zeit des Hardrock mit Led Zeppelin, The Who oder Deep Purple, ganz zu schweigen von den „Progressiven“ wie Yes, Genesis, Pink Floyd. Auf persönlicher Ebene funktioniert auch nicht alles bestens: Bei seiner Tournee mit The Band hat der Sänger mehrere Affären, darunter eine besonders viel kommentierte mit einer Angestellten der CBS. Seine Ehe mit Sarah, geb. Shirley Marlin Noznisky, die mit ihm zusammen vier Kinder hat, geht den Bach hinunter. Madame, die sich für den Rock’n’Roll-Zirkus nie begeistern konnte, ist fuchsteufelswild. Dylan, der mit ihr die schönsten Jahre seines Lebens innerhalb seiner Familie auf dem Land verbracht hatte, ist am Boden zerstört. Er macht eine Lehre beim Maler Norman Raeben, der bei diesem geborenen Songwriter den Wunsch erweckt, auf andere Art zu schreiben: „Genauso wie Gemälde verschiedene Abschnitte einer Geschichte gleichzeitig zur Sprache bringen können, beschloss ich, Songs zu schreiben, um in ein und derselben Geschichte die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft auszudrücken", sollte er Jahre später erzählen. Die etwas schleierhafte Erklärung klingt kaum überzeugend: In den Augen vieler sind die Songs auf Blood on the Tracks in erster Linie die Songs eines Mannes, der schmerzvoll das Ende seiner Beziehung erklärt; dieses sollte später übrigens sein Sohn Jakob bestätigen. Aber was für Songs! Sie zählen zu den schönsten, die er je geschrieben hat, und viele denken, dass Blood on the Tracks wohl sein bedeutendstes Album ist, noch tiefgründiger als seine Klassiker aus den sechziger Jahren, aber eines ist sicher: Seither hat er nie wieder etwas so Gutes gemacht.

Nach seinen beiden vorangegangenen, beim Label Asylum (Tom Waits, die Eagles) erschienenen Alben, kehrt Dylan wieder zu Columbia zurück und er begibt sich auch wieder in dasselbe Studio in New York (Studio A der CBS A&R Studios), wo er in den sechziger Jahren seine Meisterwerke eingravierte. Mit Ausnahme von Eric Weissberg (Dueling Banjos im Film Beim Sterben ist jeder der Erste, das ist er selbst) bilden eher unbekannte Musiker eine größtenteils akustische Gruppe, nachdem ein Versuch mit dem Gitarristen Mike Bloomfield, alles elektrisch aufzunehmen, gescheitert war. Alles fing am 16. September 1974 an und war dann zehn Tage später mit dem komplett fertiggestellten, gemixten Album beendet. Ein wahres Wunder in Zeiten, als die Rockstars oft monatelang brauchten, um eine einzige, vierzigminütige Platte unter Dach und Fach zu bringen. Im November ist es dann so weit, Blood on the Tracks kann rechtzeitig für das lukrative Weihnachtsgeschäft in die Plattenläden geschickt werden. Dylan hat jedoch Zweifel. Er ist unschlüssig. Er bittet seinen Bruder David Zimmerman, der zu jenem Zeitpunkt beim Fernsehen in Minneapolis arbeitet, sich die Platte anzuhören. Und dieser bestätigt ihm, dass die allgemeine Stimmung des Albums mit seinen Songs nicht mithalten kann. David macht Bob mit Musikern vor Ort bekannt und so spielt er mit total Unbekannten fünf Songs aus dem Album innerhalb von zwei Tagen neu ein. Blood on the Tracks, diese Montage mit Sessions in New York und Minneapolis, erscheint am 20. Januar 1974 in den Plattenläden. Es schlägt wie eine Bombe ein. Alle sind sich einig, die Kritiker genauso wie die Fans: Hier hat man es mit einem wahren Meisterwerk zu tun. Eine Sammlung grandioser Songs, einerseits melancholisch, traurig (If You See Her, Say Hello, Tangled Up In Blue), andererseits mit bitterstem Hass erfüllt (Idiot Wind), und außerdem diese mysteriösen Songs (Lily, Rosemary and the Jack of Hearts), wie nur er sie komponieren konnte. Stücke wie Shelter from the Storm oder You’re Gonna Make Me Lonesome When You Go klingen sehr persönlich, nahezu losgelöst. Und wieder eine – großteils akustische – Platte, die im totalen Gegensatz zu dem steht, was die Leute im Jahr 1975 sonst zu hören bekommen. Der absolute Erfolg, ein Konzentrat von einem Genie, zehn glanzvolle Stücke, die ein Leben verändern können.

Und dreiundvierzig Jahre später, bums! Columbia und Legacy kündigen (nach der Gesamtausgabe der Basement Tapes: Bootleg Series volume 11) den originalen Gral an, und zwar anhand der vierzehnten Ausgabe der legendären Bootleg Series: ein einfaches Album mit sämtlichen New Yorker Sessions (die einige Fans besser finden als die in Minneapolis eingespielten Versionen), vor allem aber eine 6-DC-Box in Form einer Deluxe Edition, die den absoluten Traum enthält: alle New Yorker Sessions sowie einige andere, die in Minneapolis aufgenommen wurden. Alles in chronologischer Reihenfolge, mit Fehlstarts, Versuchen, Alternative Takes, Tempovariationen, verschiedenen Instrumentierungen etc. Hier sieht man von Anfang bis zum Ende die Ausarbeitung eines Albums, das als einer der Meilensteine der Musik in der Nachkriegszeit gilt. Es gehört zu jenen Dingen, die man sich mit anderen Musikern zusammen ein einziges Mal anhört. Dylan bildet wie so oft die Ausnahme von der Regel: er ist einer der seltenen Folk- oder Rockmusiker, die ein und denselben Song von einem zum anderen Mal nie auf dieselbe Art und Weise spielen. Er wechselt jedes Mal, wie ein Jazzmusiker, was für seine Konzerte bekanntlich eine große Gefahr mit sich bringt: Die Experimente, die er unermüdlich mit seinen berühmtesten Stücken macht, können genauso brillant wie katastrophal sein, aber er nimmt wenigstens das Risiko in Kauf, nie haargenau dieselben Noten wie auf seinen Platten zu spielen.

Das wird mit dieser umwerfenden CD-Box klar, bei der sich Amateure sowie Fans die unvermeidliche Frage stellen: warum wurde die eine Aufnahme genommen und nicht die andere? Warum wurde hier die Hammondorgel weggelassen bzw. warum gibt es dort eine mehr? Und wie hat er es nach all diesen Ablenkungsmanövern und Schleichwegen letztendlich geschafft, zehn derartig perfekte und einzigartige Stücke zu präsentieren? Was hat ihm an den New Yorker Sessions nicht gefallen, sodass er fünf Songs mit anderen, unbekannten Musikern in einer anderen Stadt neu einspielt? Wie kommt es, dass etwas, das eigentlich total schizophren sein müsste, letzten Endes so einzigartig wird? Kurz und gut, wie trifft man die richtige Wahl? Hört man sich die Sessions dieser CD-Box an, die wohl zu den allerbesten zählen wird, die dem Meister je gewidmet wurden, dann fühlt man sich wie eine kleine Maus in den beiden Studios – „a fly on the wall“, sagen die Engländer – die das Privileg hat, mit den Ohren direkt der schrittweisen Errichtung einer Riesenkathedrale beiwohnen zu können. „Ich werde nie verstehen, wie so unheimlich viele Leute einen derartigen Schmerzensberg kaufen konnten“, kommentierte Dylan nach dem nicht unbeachtlichen Erfolg von Blood on the Tracks. Wahrscheinlich, weil jedes menschliche Wesen mindestens einmal in seinem Leben mit Schmerz, Liebeskummer oder Einsamkeit konfrontiert war. Wahrscheinlich auch wegen dieser Songs, die einfach brillant sind: Da ist natürlich die Stimme, die halluzinierend einfachen und poetischen Texte, aber auch die Art, wie sich diese Platte anhört: dieses akustisch gedämpfte Ambiente, wie vor einem knisternden Kaminfeuer. Gleich zu Beginn des Festes bei den ersten Akkorden des Tangled Up in Blue ist alles klar: Dylan ist hier am Höhepunkt seines Schaffens angelangt. Es sollten dann noch ein paar schöne Dinge kommen (Desire, mit einem weiteren Schrei nach Liebe und dem einfachen Titel Sara), eine letztendlich vollzogene Scheidung und eine Karriere mit vielen Höhen und Tiefen, bis jener, der einer der größten Komponisten seiner Zeit war, sich damit abfindet, auf seinen Platten nur mehr Coverversionen aus uralten Zeiten zu singen, jene, die er hörte, als er noch Kind gewesen war. Nicht schlimm, dass die Sonne nicht mehr scheint: der Stern funkelt nach wie vor.


Deutsche Übersetzung: Irene Besson

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