Der alte Blues, der vor dem Zweiten Weltkrieg in den Südstaaten der USA gespielt wurde, ist ein Genre, das von Legenden und Mythen behaftet ist. Es ist eine Musik, die dank der technologischen Innovationen und der Wirtschaft populär geworden ist. Dieser kleine Rückblick auf das Genre steht im Kontext der Verbindung, die es mit dem Kapitalismus einging, und bietet die Möglichkeit, die Meisterwerke des Country Blues einmal Revue passieren zu lassen.

Im Oktober 1990 verkaufte ein Blues-Musiker über 100.000 Alben innerhalb eines Monats. Die Zahlen stiegen auf 300.000 im Frühling 1991 und endeten bei über 1 Mio. Exemplaren - eine Entwicklung, die vor dem Hintergrund, dass dieser Musiker seit einem halben Jahrhundert tot ist und zwischen 1936 und 1937 nur 29 Songs aufgenommen hatte (mit 12 alternativen Versionen), umso bemerkenswerter ist. Sie haben vielleicht schon eine Ahnung, von wem die Rede ist. Robert Johnson, der Star des Country Blues, den man auch als traditionellen Blues bezeichnet. Der Mann, dessen Songs und magisches Gitarrenspiel die Werke von Clapton, den Stones oder Led Zeppelin beeinflussten. Der Mann, dessen Song Sweet Home Chicago ein Hit für die Blues Brothers geworden ist. Der Mann, der den Teufel und das unvergessliche Crossroad in die Mythologie des Blues hat einziehen lassen. Die originalen Platten des Sängers vom Mississippi sind zu seinen Lebzeiten entstanden: ungefähr zwölf “78er”-Schallplatten beim Label Vocalion. Aber 50 Jahre später erschien ein neuer Tonträger, der alles, was vorher existierte, wie etwa Kassetten mit 33 Umdrehungen und die Vinylplatte in den Schatten stellte. Es ist die Compact Disc (CD) und Robert Johnson hat diesem Format Format den Erfolg seiner The Complete Recordings zu verdanken (denn er verkaufte über 1 Millionen Exemplare). Welch seltsame zeitlose Reise, bei der die modernste Technologie es erlaubt, die älteste Musik wiederzuentdecken. Dies war allerdings keine Premiere für den Bluesman, der 1961 dank der Kompilation King of the Delta Blues (veröffentlicht mit 33 Umdrehungen - jenem Format, das das alte mit 78 Umdrehungen ersetzte) eine Renaissance erlebte. Und nur als Randnotiz: 1934 trat zum ersten Mal der Begriff “Hi-Fi” auf.

Um die Geschichte des Tonträgers zusammenzufassen, kann man sagen, dass die CD die 33-Umdrehungen-Schallplatte verdrängte, die wiederum die 78-Umdrehungen verdrängte (die wiederum den Phonographenzylinder hinter sich ließ). Aber nichts konnte den alten Blues aus dem Weg räumen. Um den Zusammenhang zwischen dem ältesten Blues und dem Einfluss der Aufnahmetechniken für seinen Aufschwung herzustellen, muss zunächst ein Blick auf die Geschichte der Tonaufnahmen geworfen werden. 1548 stellte sich François Rabelais in seinem Roman Pantagruel den Krach auf einem Kriegsfeld vor, der bei Frost im Winter eingefangen und im Frühling, bei Tau, wieder freigelassen wird. 1656 träumt Cyrano de Bergerac von einem “Buch, das wie durch ein Wunder keine Seiten oder Buchstaben enthält, um endlich ein Buch zu besitzen, zu dem man nur seine Ohren benötigt.” Den Ton einzufangen und ihn wiederzugeben, so wie eine Fotografie das Licht einfängt: diese Vorstellung wird im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit der Erfindung des Phonographen und des Grammophons wahr.

In der Geschichte des Blues gibt es mehrere Kapitel. Wir konzentrieren uns hier auf den Country Blues, den ländlichen Blues. Im englischen Sprachgebrauch wird häufig der Begriff “pre-war blues”, Vorkriegs-Blues verwendet. Es ist der Blues des Goldenen Zeitalters. Aber wie konnte der Blues vor dem Ersten Weltkrieg erklingen? Niemand kannte ihn, denn er konnte ja nicht aufgenommen werden. Vor den Platten wurde die populäre Musik anhand von Partituren oder Songbüchern verbreitet. Der Blues existierte vor allem durch seine Musiker der ländlichen Bevölkerung, in Kleinstädten in den Südstaaten Amerikas oder an Bahngleisen. Genau hier, am Bahngleis von Tutwiller (Mississippi), auf dem William Christopher “W.C.” Handy auf einen Zug wartete, entdeckte er den Blues. Neben ihm sang ein schwarzer Mann in Lumpen, dessen Zehen aus den Schuhen herausschauten und der Gitarre spielte, mit einem Messer, das als Capo diente, ganz wie es zu der Zeit auf Hawaii in Mode war.

W.C. Handy war Komponist und Musiker und stammte aus einer Sklaven-Familie im Süden. Er transkribierte den Blues vom Tutwiller Bahnhof in eine Partitur und vermischte diese mit seinen Kompositionen von Ragtime und Jazz, um eine für die Stadt moderne Musik zu schaffen. So entstand die Legende des “Blues-Vaters”. 1910 entstanden Songs, die “Blues” im Titel enthielten wie etwa Dallas Blues von Hart Wand (1912) oder The Weary Blues von Artie Matthews (1915). Aber dies war nicht wirklich der Blues und auch keine Songs, die in der Tradition der mündlichen Verbreitung des Country Blues standen. Es war wie ein instrumentaler Ragtime. Um die erste wirkliche Blues-Platte zu hören, musste man sich noch bis 1920 gedulden: Crazy Blues von Mamie Smith stieg innerhalb von sechs Monaten auf 1 Millionen verkaufte Exemplare. Es handelt sich dabei um einen schönen Jazz-Song, der von Bläsern begleitet wird, aber dies ist immer noch nicht der ländliche “authentische” Blues. Mamie Smith ist Schauspielerin, Tänzerin und Jazz-Sängerin, die in Harlem lebt. Bei Working Man Blues von Joe “King” Oliver, das 1923 in Chicago mit Louis Armstrong im Orchester aufgenommen wurde, verhält es sich ähnlich. Wie würde man sie heute nennen? Urban?…

Melden Sie sich kostenlos an, um weiterzulesen