Zum 100. Todestag von Camille Saint-Saëns.

Im Winter 1889 verschwindet der berühmte Komponist Camille Saint-Saëns, 53 Jahre alt, spurlos von der Bildfläche. Wilde Spekulationen machen die Runde: Er sei bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen; man habe ihn wegen einer Erbschaft entführt; er habe den Verstand verloren und sei in eine Irrenanstalt eingeliefert worden sei. Nichts dergleichen ist geschehen. Saint-Saëns hat sich einfach abgesetzt. Erschüttert vom Tod seiner Mutter, mit der er nach dem Scheitern seiner Ehe zusammengelebt hat, und zermürbt von den Kabalen des Pariser Musiklebens, ist er, ohne irgendjemandem ein Sterbenswörtchen zu sagen, über Südspanien auf die Kanaren gereist. In den folgenden 15 Jahren führt er ein Leben ohne festen Wohnsitz, unterwegs zwischen Ländern und Kontinenten. Frankreich. Ceylon. Italien. Malta. Schweiz. Spanien. Ägypten. Schweden. England. Argentinien. Und immer wieder Algerien, das ihm zur zweiten Heimat geworden ist.

Das Reisen, so scheint es, liegt Saint-Saëns im Blut. „Bestimmt wird man wieder behaupten, ich könne einfach nicht ruhig sitzen“, schreibt der 80-Jährige an einen Freund. „Dabei würde ich viel lieber zuhause bleiben und in aller Ruhe arbeiten, doch das Schicksal will es nicht“. Seine zeitlebens angegriffene Gesundheit treibt ihn im Winter aus dem feucht-kalten Paris in mediterrane Gefilde, Tourneen führen ihn als gefeierten Pianisten und Dirigenten um die halbe Welt. Und auch seine vielfältigen Interessen stacheln seine Reiselust an. Er studiert in Pompeji römische Fresken, beschäftigt sich mit Flora und Fauna in Indochina, eilt 1892 von Genf nach Neapel, um einen Ausbruch des Vesuv zu erleben, und 1905 nach Spanien, wo er eine totale Sonnenfinsternis beobachtet.

Dass ihn fremde Kulturen faszinieren, ist in seiner Musik nicht zu überhören. Die arabischen Skalen und synkopischen Rhythmen in der Suite algérienne oder Africa für Klavier und Orchester; im Fünften Klavierkonzert, L’Egypte, eine Melodie, die er dem Gesang eines Nilschiffers abgelauscht hat; spanisches Kolorit in Jota aragonese; Ganztonleitern und Pentatonik nach der grassierenden Japan-Mode im Operneinakter La Princesse jaune: Schillernde Facetten eines riesigen Œuvres, das sich über die Jahrzehnte hinweg kaum verändert hat. Und doch voller funkelnder Überraschungen steckt.

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