Vor 50 Jahren starb der Dirigent Otto Klemperer, ein Gigant seiner Zunft. Zum Gedenkjahr bringt Warner Classics eine 95-CD-Box mit den Orchester­aufnahmen heraus, die zu einer Neubewertung einlädt.

Als Otto Klemperer vor 50 Jahren am 6. Juli 1973 im Alter von 88 Jahren starb, war er eine Figur aus einer anderen Epoche. Geboren 1885, drei Jahre nach Richard Wagners Tod, zu Lebzeiten von Brahms, Bruckner, Tschaikowski, Dvořák und Gustav Mahler, schien er nicht in die Gegenwart Anfang der 1970er-Jahre zu passen, die geprägt war von Pierre Boulez, Luciano Berio und Karlheinz Stockhausen. Ein Irrtum. Klemperer war in den 1920er- und 1930er-Jahren selbst ein Mann der Moderne gewesen, seine Leitung der Kroll-Oper in Berlin von 1927 bis 1931 hat Theatergeschichte geschrieben. Dort hatte er sich für Weill, Schönberg, Hindemith, Janáček und Strawinsky eingesetzt.

Den knapp 40-jährigen Klemperer beschreibt Adolf Weissmann 1925 so: “Ein schlanker, hochaufgeschossener Mann mit den Augen eines Fanatikers, die hinter Brillengläsern scharf auf ihr Ziel gerichtet sind. Ein wenig gebeugt, aber doch voll Haltung. Die Arme beschreiben Linien, die nicht eckig noch rund sind, die Geste ist ausgebildet, aber nichts Überflüssiges ist zu beobachten. Die Zeichen sind von äußerster Bestimmtheit. Was die Musikerstirn fühlt und denkt, wird in die Tat umgesetzt. Ohne Pose, überlegen, aber doch mit drängendem Temperament; vielmehr mit einer Besessenheit, die keinen Widerstand kennt.” 40 Jahre danach, in seinem neunten Lebensjahrzehnt, war Klemperer ungebrochen gegenwartsbezogen, neugierig. Er tauschte sich mit Boulez aus, den er äußerst schätzte, besuchte seine Konzerte, hörte eine Aufführung von Stockhausens “Gruppen”, ließ sich von Heinz Holliger eine seiner neuesten Partituren erklären.

Nach seiner Emigration hat man Klemperer in Europa 18 Jahre nicht erlebt. Bis 1939 leitet er in Los Angeles das dortige Orchester. Im gleichen Jahr wird bei ihm ein Gehirntumor diagnostiziert. Die Operation überlebt er, schwer gezeichnet, rechts zum Teil gelähmt, es bleiben Sprach- und Bewegungsstörungen. Beinahe schlimmer für ihn: Der Eingriff verstärkt die bipolare Störung, unter der er seit seiner Jugend leidet. Manische Phasen lösen tiefe Depressionen ab. Fünf Jahre erhält er kaum Engagements, entfremdet sich von Freunden und Familie. Klemperers Karriere scheint 1945 im Alter von 60 Jahren vorbei, bis er nach Europa zurückkehrt. Er dirigiert als Gast, insbesondere das Concertgebouworkest in Amsterdam, und wird von 1947 bis 1950 Leiter der Budapester Oper. Danach allerdings ist ein Chefposten bei einem Toporchester nicht in Sicht.

Otto Klemperer
Foto: Godfrey MacDominic/Lebrecht
Pfeife rauchen war Genuss pur für Otto Klemperer, brachte ihn aber einmal in Lebensgefahr.

Doch dann ereignet sich ein Mirakel. Walter Legge, mächtiger Schallplattenproduzent von His Master’s Voice, engagiert Klemperer für ein Konzert des von ihm gegründeten Philharmonia Orchestra. Der Londoner Auftritt 1951 wird zum Triumph. Am 10. Mai 1952, vier Tage vor seinem 67. Geburtstag, unterzeichnet Klemperer einen Schallplattenvertrag. Legge wagt es mit dem alten Herrn, obwohl der nach einem Oberschenkelhalsbruch beinahe ein Jahr pausieren musste. Die erste Aufnahme, Mozarts Jupiter-Sinfonie, findet am 5. Oktober 1954 in der Londoner Kingsway Hall statt. Bis zum 28. September 1971 folgen rund 200 weitere. An diesem Tag leitet Klemperer im Studio 1 in der Abbey Road seine letzte Sitzung, Mozarts Bläserserenade K. 375; eine Aufnahme der Entführung aus dem Serail bleibt unerfüllter Plan. Als die Beethoven-Sinfonien Nr. 3, 5 und 7 im Jahr 1955 herauskommen, sind Publikum und Kritik begeistert; zwei Jahre später liegt der vollständige Beet­hoven-Zyklus vor und Klemperers erstaunliche Alterskarriere beginnt.

Otto & Lotte Klemperer
Foto: Erich Auerbach
Beim Spaziergang mit seiner Tochter Lotte, die für ihn als Managerin und Betreuerin tätig war.

Für den blutjungen Dirigenten mit der imponierenden Körpergröße von 1,95 Metern hatte ein Kritiker ein packendes Bild gefunden: “Ein vom Himmel gefallenes noch glühendheißes Erz”. Dem entsprach der auf Stock und Rollstuhl angewiesene Klemperer in seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten auf gewisse vergeistigte Weise weiter. Ein Wunder, dass dieser Mann mit all den Krankheiten und Unfällen überhaupt so lange überlebt hat. Im September 1958 war er mit brennender Pfeife eingeschlafen, das Bett und er stehen in Flammen: Die Ärzte bangen um sein Leben, nach sieben Monaten darf er das Krankenhaus verlassen, knapp ein Jahr nach dem Unfall dirigiert er wieder öffentlich. Seine Willensstärke erweist sich erneut als Lebensretter. Das zentrale geistige Trauma bleibt die Emigration 1933 wegen der jüdischen Herkunft. 1967, nach 50 Jahren, kehrt der zum Katholizismus Konvertierte zum Judentum zurück, besucht und unterstützt vehement den jungen Staat Israel, dirigiert dort und nimmt dessen Pass an.

Otto Klemperer

Foto: Godfrey MacDominic/Lebrecht
In Zwietracht mit Yehudi Menuhin bei der Einspielung von Beethovens Violinkonzert.

Ein religiös Gläubiger war Klemperer aber kaum, er glaubte an die Musik. Mit einer manche befremdenden Strenge galt sein Ziel der Verlebendigung der Partitur. Aufführungen wie in Granit geschlagen – kein Bild wurde in dem Zusammenhang öfter benutzt. Ehern, wuchtig, unerbittlich wirken viele der dokumentierten Aufnahmen, live oder im Studio. Anlässlich des 50. Todestages sind (beinahe) vollständig die für die Labels Polydor, Parlophone, Electrola, HMV, Columbia und EMI entstandenen Orchesteraufnahmen in der Warner Classics Remastered Edition herausgekommenen. Im Herbst folgen die Opern- und Choraufnahmen. Sämtliche Schellackplatten und Tonbänder sind von dem in Annecy ansässigen Art & Son Studio überspielt und im Format 192 KHz/24-Bit digitalisiert worden; der Masteringingenieur Christophe Hénault war auch für das Remastering von Warners viel gelobter Furtwängler-Edition verantwortlich (siehe FONO FORUM 10/2021).

Otto Klemperer und Christa Ludwig

Foto: Mac Dominic
Mit Christa Ludwig während der Aufnahme von Mahlers „Lied von der Erde“.

Den Auftakt der Edition bilden einige der ersten Aufnahmen aus der Zeit der Weimarer Republik, bei denen Klemperer die Staatskapelle Berlin leitete, die ihm in der Kroll-Oper zur Verfügung stand. Schade, dass man von diesen Schellackaufnahmen nur eine zwei CDs umfassende Auswahl übernommen hat. Darunter sind Brahms’ erste Sinfonie von 1928 (agogisch freier als später mit dem Philharmonia Orchestra), Wagners Tristan-Vorspiel mit dem selten aufgeführten Konzertschluss (1927) – von drängender, ja erotisch aufgeladener Intensität – sowie der Tanz der sieben Schleier aus Strauss’ Salome, eine heiß glühende, frenetische Aufnahme von 1927. Im gleichen Jahr schrieb der später mit Klemperer eng befreundete Ernest Bloch über dessen Berliner “Fidelio”: “Nie brannten wir genauer.” Das trifft es genauso bei Wagner und Strauss. Ärgerlich, dass die von Klemperer angeregte “Kleine Drei­groschenmusik”, von der er 1931 vier Nummern eingespielt hat, nicht berücksichtigt wurde, die in der Edition enthaltende Stereo-Fassung von 1961 hat nicht mehr den Biss, den gleichen trockenen Gestus.


Über den Aufnahmeprozess war sich Klemperer zu Tonbandzeiten nicht bis ins Letzte im Klaren. Er ahnte, dass nachgeholfen wurde. Statt einzelne Abschnitte oder Takte, die nicht gelungen waren, zu wiederholen, bevorzugte er die Aufnahme vollständiger Sätze. Bei der Produktion von Mozarts Sinfonie Nr. 33 – inzwischen hatte Suvi Raj Grubb Legge als Klemperers Produzent abgelöst – gab es drei in einem Zug entstandene Fassungen des Finales, bei jeder gab es kleinere Unsauberkeiten, beispielsweise ein kieksendes Horn. Als Grubb erklärte, ein vierter Durchgang sei nicht nötig, er würde aus den drei Versionen eine fehlerfreie zusammenschneiden, meinte der Dirigent, das sei nicht mehr seine Aufführung. Grubb erwiderte, er habe doch alle drei Takes dirigiert. Klemperer beharrte: “Nein, nein, das ist nicht mehr meine Aufführung, sondern ihre.” Dann habe dieser, so Grubb in seinen Erinnerungen, düster seine Tochter angesehen und gesagt: “Lotte, ein Schwindel.”

Otto Klemperer und Suvi Raj

Foto: Parlophone Records Ltd., A Warner Music Group Company
Beim Abhören von Beethovens 7. Sinfonie 1968 gemeinsam mit Produzent Suvi Raj Grubb (links).

Vielleicht tragen diese ununterbrochenen längeren Abschnitte dazu bei, dass sich trotz manchmal auffällig langsamer Tempi in den späteren Jahren ein innerer (be-)zwingender Zusammenhalt einstellt. Im Lichte historischer Aufführungspraxis wirken etwa die Einleitung und das Andante von Haydns Sinfonie Nr. 101 extrem breit. Aber durch die Betonung der harmonischen Leitspannungen sowie rhythmisch absolute Präzision gelingt eine ungemein fesselnde Deutung, zu der auch die sich gegenübersitzenden Geigen beitragen; Klemperer bevorzugte diese Orchesteraufstellung grundsätzlich. Ähnlich überraschend schlüsselt Klemperer Berlioz’ Symphonie fantastique (1963) auf. An die Stelle des überwältigenden Charmes eines Charles Munch tritt die atmende Gewalt der musikalischen Faktur. Klemperer inszeniert nicht, was manchem Hörer in den beiden Finalsätzen zu wenig sein mag, er schaut in die Noten.

Otto Klemperer

Foto: Godfrey MacDominic/Lebrecht
Klemperer 1966 bei der Recording Session von „Don Giovanni“ im heutigen Abbey Road Studio 1.

Vor dem Hintergrund der neuen Sachlichkeit, die Klemperers frühe Karriere prägte, ist die ihm attestierte Texttreue zur Partitur aber zu relativieren. In den Beethoven-Sinfonien verdoppelte er wegen des groß besetzten Streicherapparats häufig die Holzbläser, auch Hörner. Die Coda des Finales von Mendelssohns “Schottischer” Sinfonie ersetzte er durch eine selbst komponierte Fassung (nicht im Studio 1960, da hatte sich Legge durchgesetzt), am Schluss von Brahms dritter Sinfonie wandelte er eine Tremolando-Passage in den Violoncelli in eine melodische Linie um, und Bruckners Achte nahm er nicht nur in der problematischen Nowak-Fassung von 1955 auf, sondern kürzte das Finale um 141 Takte.

Und doch: Bei aller Variabilität seiner Tempi – Klemperer dirigierte sowohl die schnellste als auch die langsamste Aufführung von Mahlers zweiter Sinfonie: 1950 in Sydney 67 Minuten, 1971 in London 98′50 – gibt es Grundlegendes, das konstant bleibt, man mag es pathetisch Werk­orientiertheit nennen: analytisch, transparent, frei von allem Außermusikalischen. Nichts hat Klemperer mehr abgestoßen als die Bemerkung von Richard Strauss, er könne keine Beethoven-Sinfonie dirigieren, ohne sich dabei etwas vorzustellen. Strauss habe ihm gesagt: “Na ja, also bitte, der zweite Satz von der fünften Sinfonie ist der Abschied von der Geliebten, und wenn die Trompeten kommen, ist das ‚Auf zu höheren Zielen’.” Klemperer kommentierte das in einem Gespräch mit seinem späteren Biografen Peter Heyworth auf typisch trockene Art: “Ist das nicht unglaublich? Ich hab ja meinen Ohren nicht getraut.”

Klemperer gehörte wie Bruno Walter, Willem Mengelberg und Oskar Fried zu den Mahlerianern der ersten Stunde. Inwieweit seine Aufnahmen authentisch sind, Rückschlüsse auf Mahlers Aufführungen zulassen, lässt sich kaum sagen. Eine akademische Frage, denn das hinreißende Lied von der Erde mit Fritz Wunderlich und Christa Ludwig steht bis heute als eine zentrale Aufnahme im Katalog. Die 1961/62 produzierte zweite Sinfonie punktet mit Genauigkeit im Detail und einem alles überwölbendem Zug bis zum Auferstehungs-Finale. Die Vierte zeigt den elegant phrasierenden Klemperer. Der Neunten fehlt diese Binnenspannung, erst recht der Siebten. Der Kopfsatz ist der langsamste der Diskografie, in der Schlussgruppe allerdings von einer schwarzen Grimmigkeit, die fasziniert. Die folgenden Sätze wirken in der Darstellung distanziert und, so ungern man das formuliert: buchstabiert.

So steht in der Spätzeit des Giganten Klemperer immer wieder Irritierendes neben Geglücktem. Zu Letzterem zählen unter anderen Bruckners Sinfonien Nr. 4 und 6, Mendelssohns vierte Sinfonie, die Sommernachtstraum-Auszüge, Schumanns Vierte, die Sinfonien von Brahms (die Zweite hört man jedoch 1956 live ekstatischer) und dessen Violinkonzert in Igor Oistrachs bester Aufnahme; schließlich alles in allem zentral für Klemperer: die Beet­hoven-Sinfonien.

Otto Klemperer
Otto Klemperer: Warner Classics Remastered Edition Vol.1. Symphonic Works. 95 CDs (1927–1971)

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*Beitrag aus dem Fono Forum/August 2023. Das monatlich erscheinende Magazin Fono Forum bietet mit seinen Rezensionen, Artikeln und Interviews einen umfassenden Blick über die neuesten Plattenerscheinungen sowie das Musikgeschehen der Genres Klassik und Jazz.