Wäre er nicht gewesen, würden Keith Jarrett, Brad Mehldau und viele andere Jazzpianisten heute ganz anders spielen. Mehr als 40 Jahre nach seinem Tod hat Bill Evans‘ Vermächtnis nicht an Einfluss verloren, ganz im Gegenteil. Angesichts einer schier endlosen Diskographie, in der selbst als belanglos eingestufte Aufnahmen noch besser sind als 90% der allgemeinen Produktion, fällt die Entscheidung schwer. Hier sind zehn Alben in einer Auswahl nach ganz subjektiven Kriterien...

"Bill Evans hatte einen enormen Einfluss auf mein Spiel und meine Arrangements, vor allem in Bezug auf eine bestimmte orchestrale Konzeption, die ich beim Spielen entwickle. Der Einsatz von Gegenstimmen und Ostinati, das ist alles sehr orchestral. Das wurde mir erst später in meiner Karriere bewusst. Im Leben eines Künstlers kommt es häufig vor: Man spielt einfach, was man hört. Und erst später hält man inne, denkt nach und erkennt dann, wovon man beeinflusst wurde...". So wie Herbie Hancock preisen viele andere den Mann, der vor vierzig Jahren, am 15. September 1980, im Alter von 51 Jahren starb. Bill Evans‘ Einfluss auf seine Kollegen – und nicht nur auf Pianisten – scheint mit den Jahren sogar zu wachsen. Seine formale und technische Hinterlassenschaft wie auch seine immense Diskographie (mit mehr als 70 Alben als Leader oder Co-Leader zwischen 1959 und 1980 ist er einer der Jazzmusiker, die zu Lebzeiten am meisten veröffentlicht haben), faszinieren immer noch. Evans' Leben, das lange Perioden der Heroin- und dann der Kokainabhängigkeit kannte und in dem Tod und Selbstmord umgingen, war kein Zuckerschlecken. Es stürmte im Inneren. In seinen stilistischen Vorlieben, seinem Verhältnis zu Tonaufnahmen und zum Standardrepertoire, das er immer wieder neu interpretierte, und nicht zuletzt in seinen endlosen Überlegungen zum Trio Klavier/Bass/Schlagzeug – seiner Lieblingsbesetzung, die in der Geschichte des Jazz einen besonderen Stellenwert einnahm.

Kind of Blue (Columbia, 1959) 

Kind of Blue wird von vielen als das größte Album aller Zeiten betrachtet. Und obwohl Miles Davis‘ Konterfei das Cover schmückt, hat dieser nie verschwiegen, dass sein Meisterwerk des modalen Jazz um Bill Evans‘ Spiel herum konzipiert wurde. Auch wenn der Pianist, der sich auf Einflüsse von Bud PowellNat King Cole und Lennie Tristano beruft, bereits mit seinen ersten beiden Alben (New Jazz Conceptions im Februar 1957 und vor allem mit dem treffend benannten Everybody Digs Bill Evans im März 1959) die Jazzwelt aufzurütteln begann, gilt Kind of Blue, auf dem auch die Saxophonisten John Coltrane und Cannonball Adderley, der Kontrabassisten Paul Chambers und der Schlagzeuger Jimmy Cobb zu hören sind, als Krönung. Das Album eröffnet neue Wege und bildet den perfekten Übergang vom harmonisch aufgeladenen Hardbop zu einem modalen Jazz, in dem größere harmonische Abschnitte der Kreativität in der Improvisation mehr Raum lassen. Evan machte Davis mit vielen klassischen Komponisten wie Bartók und Ravel bekannt, die in ihren Kompositionen Modi verwendeten. Der Trompeter stützte sich auch auf sein Wissen über Modi im Blues. Zusammen mit dem Pianisten entwarf er einige Skizzen von Themen, die er den anderen Musikern am 2. März 1959 im Studio vorstellte. Miles Davis legte großen Wert auf die Spontaneität seiner Sidemen und wollte sie von der ersten Aufnahme an einfangen. Er war zum ersten Mal in seiner Karriere einem Pianisten begegnet, der denselben Sinn für Sparsamkeit, Raum und Stille hatte wie er, wie der letzte Titel des Albums, Flamenco Sketches von Bill Evans zeigt. "Ich habe mich in sein Spiel verliebt", gestand Miles. "Ich liebte diese ruhige Heiterkeit, die er am Klavier ausstrahlte. Seine Herangehensweise an das Instrument, an den Klang, kristallklare Töne wie Wasser, das einen sprudelnden Wasserfall hinunter stürzt.“

Portrait in Jazz (Riverside, 1960)

Als er Portrait in Jazz aufnahm, war Bill Evans bereits 30 Jahre alt und konnte drei Alben als Leader (New Jazz Conceptions, Everybody Digs Bill Evans und On Green Dolphin Street)) und zahlreiche Sideman-Jobs für George RussellTony ScottCharles MingusHelen MerrillEddie Costa und vor allem für Miles – für das zehn Monate zuvor aufgenommene berühmte Album Kind of Blue – vorweisen. Der Pianist wurde bereits von der internationalen Kritik gefeiert und jedes seiner Konzerte wurde genau unter die Lupe genommen. Bei der Aufnahmesession am 28. Dezember 1959 wurde er von Scott LaFaro am Kontrabass und Paul Motian am Schlagzeug begleitet. Es war ihre erste Aufnahme als Trio. Was für ein Trio! Vielleicht das größte und inspirierteste in der Geschichte des Jazz. Die Zeiten, in denen der Pianist König war und seine Rhythmusgruppe nur zur Untermalung und Begleitung diente, waren vorbei. Zwischen drei Musikern, die ihre Technik und Aussage perfekt dosierten, gab es hier auf einmal echten Austausch und spannende Dialoge. LaFaros Partie stellte die Spielregeln des Kontrabasses auf den Kopf, der noch nie so viel zu sagen gehabt hatte. Der Titel Autumn Leaves, der hier wie ein Manifest der gleichzeitigen Improvisation klingt, ist der Beweis. Die Komplizenschaft der drei Amerikaner war damals noch nicht so stark wie bei den berühmten Konzerten im Village Vanguard im Juni 1961. Jedoch bot Portrait in Jazz bereits revolutionäre Neuinterpretationen von Standards, die so oft aufgegriffen worden waren, wie z.B. Come Rain oder Come Shine, When I Fall in Love und What is this Thing Called Love? Bill Evans' Spiel zeigt die ganze Bandbreite seiner Möglichkeiten und begeistert in einem niemals reißerischen, in introspektiven Momenten äußerst melancholischem Swing. Die legendäre erste Episode in der Geschichte dieses Trios. Eine Geschichte, die schon bald brutal zu Ende gehen sollte, denn LaFaro starb am 6. Juli 1961 im Alter von erst 25 Jahren bei einem tragischen Verkehrsunfall.

Waltz for Debby (Riverside, 1962)

Untrennbar mitSunday at the Village Vanguard verbunden, das ebenfalls am 25. Juni 1961 im legendären New Yorker Club während desselben Konzerts aufgenommen wurde, zeigt das Live-Album Waltz for Debby, wie stark die innere Übereinstimmung zwischen Bill Evans, Scott LaFaro und Paul Motian geworden war. Der eigentliche Gipfel des impressionistischen Trios ist jedoch das Verhältnis zwischen Evans und LaFaro. "Es mehr als eine musikalische Erfahrung", gab der Pianist später zu. "Scott war einer der lebendigsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Er war immer eine Inspiration für mich. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn er nicht gestorben wäre. Er hatte enorme Fortschritte gemacht.“ An diesem Sonntag im Frühsommer des Jahres 1961 spielte Bill Evans auf dem alten Steinway im Vanguard voller Emotionen, aber niemals rührselig. Dieses starke Element seiner pianistischen DNA war selten so stark zum Vorschein gekommen. In dieser subtilen Musik steckt eine überwältigende Romantik, die nie nach Bequemlichkeit sucht. Ganz wie My Foolish Heart, der Standard von Victor Young und Ned Washington, mit dem das Album beginnt und der von den drei Musikern ohne jede Rührseligkeit interpretiert wird. Zehn Tage nach dem Konzert wurde dieses herrliche Trio durch den Tod von Scott LaFaro an der Route 20 im Bundesstaat New York zwischen Geneva und Canandaigua zerstört.

Empathy (Verve, 1962)

1962 nahm Bill Evans sein erstes Album für das Label Verve mit zwei neuen Komplizen, dem großen West-Coast-Jazz Schlagzeuger Shelly Manne und dem Kontrabassisten Monty Budwig auf. Empathty, das im August 1962 von Creed Taylor (Produzent von Jobims berühmtem The Girl from Ipanema) aufgenommen wurde, war eigentlich nicht geplant. Shelly Manne & His Men traten am selben Abend wie Evans' Trio im New Yorker Village Vanguard auf. Taylor erhielt von Evans‘ Label Riverside die Genehmigung, im Studio des berühmten Toningenieurs Rudy Van Gelder eine Session mit ihm, Manne und dem Bassisten Monty Budwig zu arrangieren. Das Ergebnis ist faszinierend, denn Bill Evans Spiel wirkt leichter – aber nicht weniger mitreißend – als auf seinen früheren Alben. Er spielt straffer und konzentriert sich bei jeder Intervention auf das Wesentliche. Der impressionistische Pianist passt sich einer schrofferen musikalischen Landschaft an und der Schlagzeuger mit dem energischen Swing wird lyrischer. Kurzum, jeder dringt in weniger vertrautes Gebiet vor. „Wenn ich mit Bill spiele“, erklärt Shelly Manne, "versuche ich, ihm nicht in die Quere zu kommen, denn alles, was er tut, ist so wichtig." Die fast eintägige Partnerschaft (vier Jahre später spielen die beiden Männer für A Simple Matter of Conviction  mit Eddie Gomez am Kontrabass wieder zusammen) funktioniert perfekt. Das schlichte und ultrapräzise Empathy ist weit weniger belanglos, als es scheint.

Undercurrent (United Artists, 1963)

Als Bill Evans nach dem vorzeitigen Tod von Scott LaFaro zum ersten Mal wieder den Fuß in ein Aufnahmestudio setzte, gab es weder einen Bassisten noch einen Schlagzeuger. Am 24. April 1962 war der Mann an seiner Seite ein Gitarrist in den Dreißigern, der zwei Monate zuvor am Meisterwerk des Saxophonisten Sonny RollinsThe Bridge, mitgewirkt hatte und ebenso diskret wie talentiert war. Jim Hall ist eine Art Doppelgänger von Evans, ein Befürworter von Schlichtheit, der auch Töne genauso liebt wie die Stille und in der klassischen Musik immer wieder neue Energie auftankt. Ein introspektiver Ästhet, der auf die Pyrotechnik der Virtuosität, die den meisten Jazzgitarristen am Herzen liegt, verzichtet. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern ist verblüffend, ändert aber nichts an der Intelligenz ihrer Musik. Jim Hall’s Gitarre klingt manchmal wie ein Klavier, was Undercurrent noch erstaunlicher macht. "Es war so einfach, mit Bill zu arbeiten. Es war, als würde er die ganze Zeit Ihre Gedanken lesen. Wenn ich Rhythmus spielte, was ihm durchaus zu gefallen schien, benutzte er automatisch seine linke Hand weniger oder gar nicht, in dem Bewusstsein, dass ich diesen Teil übernommen hatte." Das Duo kam 1966 anlässlich der Aufnahmen des ebenso wichtigen Albums Intermodulation für das Label Verve wieder zusammen.

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