Michael Spyres hat sich anlässlich der Veröffentlichung seines Albums In the Shadows, das heute bei Erato erscheint, zu einem Gespräch bereit erklärt: Begegnung mit einem phänomenalen Sänger, der sich über stimmliche Etiketten hinwegsetzt und ständig danach strebt, die Möglichkeiten seiner außergewöhnlichen “Baritenor”-Stimme voll auszuschöpfen.

In Begleitung von Christophe Rousset und seinen Talens Lyriques bietet Michael Spyres auf In the Shadows Auszüge aus französischen, italienischen und deutschen Opern aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Neben sehr bekannten Arien wie der des Florestan aus Beethovens Fidelio, der des Max aus Webers Freischütz oder der des Pollione aus Bellinis Norma macht uns der Sänger auch mit selteneren Arien von Méhul, Spontini, Meyerbeer, Rossini, Auber, Marschner... bekannt. Was haben sie gemeinsam? Sie spiegeln die Vielfalt der Einflüsse wider, die auf die Kunst des jungen Richard Wagner einwirkten. Sie bereiteten ihm den Weg, blieben aber gleichzeitig in the shadow – also im Schatten – des deutschen Komponisten, dessen viel zu selten aufgeführte Feen, gefolgt vom wunderbaren Gebet des Rienzi und Lohengrins Abschied hier zu genießen sind. Das neue Rezital knüpft an frühere Alben von Spyres an, die er der Geschichte des Tenors gewidmet hat, wie etwa Baritenor (2021 bei Erato), wo er zwischen Tenor und Bariton wechselt, und Contra-tenor (ebenfalls bei Erato), wo er die Rolle des Tenors in Barock und Klassik – von Lully bis Gluck und Mozart – untersucht.

Wagner und der Gesang

Michael Spyres ist ein Pionier, der es liebt, neue Wege zu gehen, und ein Enthusiast, der seine Ideen und Entdeckungen gerne mit anderen teilt. So kam er völlig ungezwungen und mit offensichtlicher Begeisterung nach einem Konzert und einer anschließenden langen Autogrammstunde in Straßburg mit uns hinter die Bühne, um über sein nächstes Album zu sprechen. Mit einer kleinen Erfrischung in der Hand wirkte er noch fit und drückte sich mühelos und wortgewandt auf Französisch aus, was nicht verwundert, wenn man seine perfekte Aussprache in der Grand Opéra und der Opéra Comique kennt. Auf diesem Repertoire hat der Amerikaner seine Karriere aufgebaut, neben Rossini natürlich, in dem er seit seinen Anfängen triumphiert.

An diesem Abend waren wir davon weit entfernt, denn er hatte gerade mit dem Orchestre Philharmonique de Strasbourg eine neue Version der Wesendonck-Lieder aufgeführt: der ideale Aufhänger, um ihn auf sein neuestes Album anzusprechen und ihn über seine Beziehung zu Wagner zu befragen. Dazu ist zu sagen, dass die bloße Erwähnung dieses Namens seine Fans beunruhigt, die befürchten, dass der Sänger aus seinem Lieblingsfach ausbrechen und dabei seine Stimme gefährden könnte. Ist der geniale Baritenor dabei, sich in einen Heldentenor zu verwandeln?

Er gab zu, dass er lange Zeit vor Wagner zurückscheute. Doch auf der Suche nach den Inspirationsquellen des Komponisten gelangte er wieder auf vertrautes Terrain. Sein Ansatz blieb nach wie vor der gleiche:

“Ich suche immer nach dem Gesangsstil und danach, für welchen Sänger das Werk gedacht war. Die Musik wird immer für einen bestimmten Sänger komponiert. Die Entstehung der Wesendonck-Lieder fällt in die Epoche von Andrea Nozarri und Adolphe Nourrit. Wagner hatte die Stimmen dieser Sänger im Sinn...”.

Auf den Spuren von Nozarri und Nourrit

Mit diesen beiden berühmten Künstler des 19. Jahrhunderts ist der Sänger schon lange vertraut: Seit seinen frühen Erfolgen entspricht der Großteil von Michael Spyres’ Repertoire dem des Tenors Andrea Nozarri (1776-1832), der ebenfalls Rossinis Otello interpretiert hatte. Nozarri gehörte aufgrund seines Stimmumfangs, der sich in den für ihn geschriebenen Partituren widerspiegelt – mit den mühelosen Höhen eines Tenors und den satten Tiefen eines Baritons – zur Stimmkategorie des “Baritenor”. Michael Spyres schenkt dieser Kategorie mit seiner Stimme, die durch ihre Schönheit, ihre Flexibilität und ihren außergewöhnlichen Ambitus von drei Oktaven besticht, neues Leben!

“Die von Nozzari verkörperten virtuosen Rollen hatten eine sehr tiefgründige theatralische Palette und umfassten einen stimmlichen Ambitus vom tiefen G bis zum Kontra-D.”

Er ist scheint wirklich der Nachfahre einer Zeit zu sein, in der die Stimmkategorien wie wir sie heute kennen nicht existierten. Nozarri sang auch Don Giovanni... Spyres wagte sich auf dem Album Baritenor auch daran, und er singt dort auch den Figaro, wie ein anderer berühmter Baritenor vor ihm: Manuel Garcia, der Vater der Malibran.

Das andere Vorbild war Adolphe Nourrit (1802-1839), dessen Technik eher dem französischen Haute-Contre entsprach. Nourrit war an zahlreichen Uraufführungen beteiligt, etwa in der Rolle des Eléazar in Halévys La Juive, aber auch als Arnold (Rossinis Guillaume Tell) und Raoul (Meyerbeers Les Huguenots). Diese Rollen interpretiert Spyres sowohl auf der Bühne als auch in seiner Diskographie.

“Ich bemühe mich immer, wie Adolphe Nourrit zu singen. Die Grundlage seiner Technik war der Belcanto. Er hatte eine kleine Stimme und das berühmte “Do di petto” lag ihm fern. (Der Tenor Duprez soll in Guillaume Tell zum ersten Mal das Kontra-C mit Bruststimme gesungen haben). “Das hat nichts zu bedeuten. Man braucht eine gemischte Stimme: ein bisschen Bruststimme, ein bisschen Kopfstimme. Tatsächlich arbeiten alle Resonanzkammern zusammen…”

Seine Gesten sind beredt: Mit dem Glas in der Hand, deutet er auf seine Brust und dann auf seinen Kopf.

Diese Technik wird vor allem in der französischen Musik, seiner Meinung nach aber auch bei Wagner benötigt. “Einer der besten Wagner-Interpreten, Lauritz Melchior, sang auch Operetten, Belcanto, Lieder... Sie sollten sich immer fragen, welche Musik Ihrem Lieblingskomponisten vorausging: Vor Wagner gab es Berlioz, der wiederum in der Nachfolge von Gluck steht. Wagner, das ist Belcanto und französische Deklamation, zu denen sich der deutsche philosophische Geist hinzugesellt.

“Es ist sehr wichtig, diese drei Elemente zu verstehen. Es geht nicht nur um die Stimme, den Text, oder die Handlung. Viele Sänger, die heute Wagner interpretieren, tun dies auf der Grundlage einer bestimmten “Idee” von Wagner, obwohl er zu einem größeren Ganzen gehört. Ich bin davon überzeugt, dass es vom Belcanto zu Wagner eine kontinuierliche Entwicklung gibt”.

Das ist also der Sinn seines neuen Albums: Zu beweisen, dass Richard Wagner, der sich selbst als Revolutionär bezeichnete und behauptete, radikal mit der Musikwelt seiner Zeit brechen zu wollen, nicht bei null anfing, auch wenn seine Gestalt “einen Schatten” auf diejenigen warf, deren Werke die Fundamente der Oper des 19. Jahrhunderts legten.

“Méhul, Auber, Beethoven, Spontini, Bellini, Meyerbeer, Weber, Marschner... sie bilden eine Kontinuität, sie sind alle miteinander verbunden... es ist unglaublich”, rief er erneut voller Begeisterung aus.

Michale Spyres
Michael Spyres © Marco Borrelli

Ein Programm mit French Touch

Die französische Musik – und die dazu erforderliche Technik – ist für ihn ein besonders wichtiger Schwerpunkt. Im Booklet seines Albums Baritenor weist er darauf hin, dass “nur wenige wissen, dass das Leitbild von Wagners innovativen Schreibweise von meisterhaften Baritenören geprägt wurde, die während der stärker zentralisierten Periode der Revolution in der französischen Grand Opéra ausgebildet worden waren.”

Auf In the Shadows zurückkommend fügte er hinzu: “Die Franzosen bildeten weiterhin den Kreuzungspunkt aller Richtungen und Schulen (Spontini, Gluck). Frankreich war damals das musikalische Zentrum Europas und repräsentierte die Zukunft der Musik. Wagner war dort in die Lehre gegangen und schenkte das, was er dort gelernt hatte, den Deutschen. Bei den Franzosen ist der Text sehr wichtig. Bei den Deutschen auch, aber ihre Prosodie ist völlig anders. Die Tristan-Partitur zum Beispiel ist unglaublich, weil sie an der Schnittstelle zwischen allen Sprachen und allen Schulen liegt. Das ist einfach fabelhaft. Wenn man Wagner singt, muss man unabhängig vom Orchester immer die Belcanto-Linie beibehalten und daran denken, wie die Rolle des Lohengrin dem Benvenuto Cellini von Berlioz ähnelt.”

Hector Berlioz… der ideale Komponist für diesen Sänger, der seiner Nachwelt wegweisende Aufnahmen von Les Troyens, La Damnation de Faust oder Les Nuits d’Eté hinterlässt.

In dem von ihm verfassten spannenden Einführungstext zu seinem Album erinnert Michael Spyres daran, wie Wagners Vorgänger den musikdramatischen Ausdruck revolutionierten, die Fundamente für seine Ästhetik legten und den Rahmen für die Vokalkomposition des Heldentenors absteckten. Er erklärt ausführlich, was ihn bei der Zusammenstellung des Programms geleitet hat.

So beginnt das Album zum Beispiel mit einer Arie aus Joseph von Méhul, der noch in der Tradition von Gluck steht und nach Wagners eigener Aussage sein Verhältnis zum Theater verändert hatte. Florestan aus Beethovens Fidelio entspricht zwar in etwa dem Prototyp des Wagnertenors, aber der Einfluss des Rossini’schen Baritenors und seiner Nachfolger sowie des Belcanto auf die Entstehung dieses Stimmfachs ist ebenfalls nicht zu vernachlässigen. Natürlich sind in Les Fées (1834) auch Carl Maria von Weber und Heinrich Marschner zu erkennen. Rienzi ist seiner Meinung nach eine französische Grand Opéra mit einem deutschen Libretto.

“Aber erst in Lohengrin, der 1848 fertiggestellt wurde und die letzte Oper vor seinem politischen Exil war, fand Wagner seinen eigenen Weg und begründete seinen besonderen stimmlichen und dramatischen Stil...”. Michael Spyres wird in der Rolle des Lohengrin diesen Monat in Straßburg sein Debüt geben... und vielleicht erwarten ihn noch andere Wagner-Rollen, wer weiß!