Mit Bach Stage veröffentlicht Francesco Tristano bei Scala Music eine Aufnahme der Cembalokonzerte von J.S. Bach, die zeitgenössische Kadenzen enthält. Qobuz sprach mit dem luxemburgischen Pianisten, der seit 20 Jahren zwischen Barock und Techno navigiert. Porträt eines Freigeists.

Angeblich erkennt man einen großen Künstler daran, dass er immer wieder das Gleiche erzählt, aber jedes Mal unter einem anderen Gesichtspunkt. Wenn das stimmt, dann gehört Francesco Tristano zweifellos dazu. Sein letztes Album Bach Stage, das am 3. März bei Scala Music veröffentlicht wurde, geht auf eine Leidenschaft zurück, die zwei Jahrzehnte zurückliegt: Anfang der 2000er Jahre nahm der damals 20-jährige luxemburgische Pianist mit dem eigens dafür gegründeten Ensemble New Bach Players die sechs Cembalokonzerte von Bach auf. Und heute, zwanzig Jahre später, greift Tristano drei davon wieder auf.

Der Grund ist seine bedingungslose Liebe zum Leipziger Kantor. Tristano gesteht voller Begeisterung: « Bach ist eine Musik fürs Leben. Ich glaube, man kann nie alles ausleuchten. » Die Zeit vergeht und begründet die unterschiedliche Herangehensweise der Aufnahmen aus den Jahren 2002 und 2023. « Das erste Album wurde am 8. Oktober 2002 live aufgenommen, d.h. fast auf den Tag genau 20 Jahre nach dem Tod von Glenn Gould. Wir haben ihm zu Ehren das 6. Cembalokonzert gespielt, das er nie aufgenommen hatte ». Bei Bach Stage geht es um etwas anderes: « Ich kenne den Dirigenten Léo Margue seit einer ganzen Weile. Wir haben lange nach einem gemeinsamen musikalischen Projekt gesucht. Unsere Wahl fiel schließlich auf Bach. » Aber diesmal äußerte Tristano, der die charmante Eigenschaft hat, alles kompliziert machen zu wollen, « den Wunsch, einen zeitgenössischen Diskurs hinzuzufügen, indem ich verschiedene Komponisten, darunter auch mich selbst, darum bat, neue Kadenzen zu schreiben. » Das Ergebnis ist ein herrlich explosiver Cocktail: « Das gibt dem Projekt vielseitige Facetten, Momente voller Spannung aber auch voller Magie! ».


Ich hatte immer den Eindruck, dass Bach der erste minimalistische Komponist war, lange vor Steve Reich

Natürlich beginnt das Projekt « Bach 2.0 » nicht bei null. Dennoch hat sich der Künstler während der Vorbereitung von Bach Stage die Aufnahme von 2002 nicht noch einmal angehört: « Ich bin so vorgegangen, als würde ich es zum ersten Mal interpretieren. » Bei dieser neuen Version steht die Schaffung einer klanglichen Identität im Vordergrund: « Leo und ich haben uns mehrmals getroffen, um über die Wahl der Instrumente und die Nomenklatur zu sprechen. Wir haben nur einen Kontrabass behalten, aber da er Darmsaiten hat, klingt er sehr vintage, wie eine ganze Abteilung ». Auch die Wahl des Tempos ist für den Pianisten, der die Bach-Konzerte als den « Rock des Barock » bezeichnet, von großer Bedeutung. Diese Musik ist vielleicht weniger spektakulär als die italienischen Virtuositäten eines Vivaldi, aber sie « macht beim Spielen enorm Spaß. Hier herrscht Lebensfreude – zweifellos das Schönste, was uns Bach hinterlassen hat ».

Er spielt Klavier im Stehen

Diese Lebensfreude ist nicht nur zu hören, man kann sie auch sehen. Tristano spielt gerne im Stehen: « Das liebe ich! So kann ich viel besser grooven und tanzen. Im Sitzen zu spielen ist vielleicht bequemer, aber es fehlt etwas: Man kann nicht tanzen! » Sein Bewegungsdrang... rührt bestimmt von seinen vielen Aktivitäten im Bereich der elektronischen Musik her. « Ich denke, diese Inspirationen nähren sich gegenseitig. Ich hatte immer den Eindruck, dass Bach der erste minimalistische Komponist war, lange vor Steve Reich. Das beste Beispiel dafür sind meiner Meinung nach die ersten Präludien des Wohltemperierten Klaviers: eine Figur, ein Rhythmus, der sich ständig wiederholt, und dann eine Flut von Harmonien. Letztendlich ist das alles sehr Techno! » Auch wenn uns dieser Vergleich in seiner Unverfrorenheit gefällt, ist es doch fraglich, ob er dem Geschmack gestrenger Musikwissenschaftler entspricht. Doch Francesco Tristano ist ein überzeugter Freigeist, der sich nie an Klassifizierungen hält: « Ich habe immer genau das gemacht, was ich wollte, und das ist das Einzige, was ich nicht bereue. Ich glaube, viele Leute wissen nicht, in welche Schublade sie mich stecken sollen, aber diese Schubladen interessieren mich nicht. Sobald ich ein neues Projekt plane, denke ich bereits darüber nach, wie ich die Kontinuität brechen kann: Ich habe dieses Jahr viel Klavier gespielt, aber mein nächstes Album wird definitiv ein Technoalbum. »

Die Freiheit hat jedoch ihren Preis. Der Pianist, dessen Diskographie mehr als zwanzig Alben umfasst, die bei den größten Labels (Deutsche Grammophon, Sony Classical, InFiné, Pentatone) erschienen sind, hat bei keinem dieser Labels einen Exklusivvertrag. Das jüngste Label, Scala Music, teilt mit dem Musiker die Risikobereitschaft. Es ist während der Pandemie entstanden und fördert aufstrebende Talente und vielfältige, anspruchsvolle Repertoires. Es ist die musikalische Ergänzung von La Scala Paris, eines 2018 eröffneten multidisziplinären Theaters, deren Gründer Francesco Tristano seit langem kennt. Im Vorfeld der Eröffnung des Theaters hatte er sogar die Aufgabe, gemeinsam mit dem Pianisten Bertrand Chamayou den Konzertflügel auszuwählen: « Wir fuhren in die Yamaha-Werkstatt nach Hamburg. Ich hatte mich verspätet, Bertrand war schon vor mir da. Ich probierte unter seinen Augen alle Klaviere aus, und ohne darüber zu sprechen, haben wir uns beide für das gleiche Klavier entschieden. Ich freue mich jedes Mal, dieses Instrument wiederzufinden, wenn ich in La Scala ein Konzert gebe, denn ein Klavier verändert sich je nach Konzertsaal, Umgebung und Akustik. »

In den USA zwischen Jazz und Techno

In La Scala Paris wie auch im Rest der Welt lebt Tristano seinen musikalischen Facettenreichtum aus. Denn das Reisen hat für seine künstlerische Entwicklung eine entscheidende Rolle gespielt. In den späten 1990er Jahren studierte er in New York an der renommierten Juilliard School. Wenn man ihn auf diesen Abschnitt seines Werdegangs anspricht, merkt man gleich, dass er damals schon rebellisch war und wenig auf akademische Ehren hielt: « Juilliard ist für mich vor allem ein Synonym für New York: Diese Stadt hat mir die Ohren für andere Welten geöffnet, die sich von meiner eigenen sehr unterscheiden. » Tatsächlich wehte dort in dieser Zeit « nach Lewinsky und vor dem 11. September » ein angenehmer Wind der Freiheit. Der Pianist entdeckte damals den Jazz: « Das war meine Ausweichmöglichkeit! » Damals gab es an der Schule noch keine eigene Abteilung für dieses Genre. Mit seinen Freunden, die von der Manhattan School oder der New School kamen, hielt er eine Reihe von Jamsessions ab, die er manchmal auf die Schnelle aufnahm. Dann folgten die ersten Kontakte mit der Elektro-Szene: « Ich entdeckte dort noch ganz andere Möglichkeiten, klanglich, strukturell: Das war alles für mich neu! »

In dieser Zeit begann Tristano ein echtes Doppelleben: « Tagsüber arbeitete ich am Klavier und abends begann ich im ‚Music Lab’ der Schule mit ein paar Computern, Sequenzern und Synthesizern zu produzieren ». Mit der Zeit begannen sich die Einflüsse zu vermischen: « Als ich zum Klavier zurückkehrte, merkte ich, dass meine Kompositionen stark vom House oder Techno beeinflusst wurden, den ich gerade hörte ». Nach der Rückkehr nach Europa entstand daraus einige Jahre später ein wunderbares Hybridwerk, Not for Piano (2007), das bei InFiné erschienen ist und akustische und elektronische Musik kombiniert: « In dieser Beziehung glaube ich, dass wir erst am Anfang stehen. Die nächsten 10-20 Jahre werden hinsichtlich der technischen Möglichkeiten sehr interessant werden. » Seitdem arbeitet Tristano mit den größten Vertretern der Elektro-Szene zusammen, von Moritz von Oswald über Coverversionen von Derrick May bis hin zu Carl Craig: « Das sind unglaubliche Leute, seit 30 Jahren probieren sie alles Mögliche aus und verwerfen es wieder, nur aus Liebe zum Klang. »

Tokyo, meine Liebe

Eine weitere wichtige Erfahrung für die menschliche und musikalische Entwicklung des luxemburgischen Pianisten war die Entdeckung Japans. Ein erster Aufenthalt in Tokio mit Mitte 20 war für ihn wie ein Elektroschock: « Ich dachte: Dagegen ist New York ein Witz! » Aber es sollte bis 2008 dauern, bis er auf Einladung eines Bookers zurückkehrte und eine dauerhafte Beziehung zu dem Land aufbaute: « Seither fahre ich ein- bis dreimal im Jahr dorthin. Inzwischen beginne ich mich dort auszukennen, habe bestimmte Gewohnheiten und Freunde gefunden. » Tristano hat Tokio schließlich mit dem Album Tokyo Stories (Sony Classical, 2019) eine wunderbare Hommage gewidmet: « Das ist mein Lieblingsalbum, mein Baby. Ich habe wirklich alles hineingelegt, ich habe mich ganz geöffnet ». Darüber hinaus gibt es in der japanischen Szene Künstler, die er sehr bewundert: den Tänzer Saburo Teshigawara, mit dem er mehrere Jahre zusammengearbeitet hat: « Ich habe viel von ihm gelernt und meine Einstellung zum Raum, zur Stille und zum Rhythmus völlig neu überdacht. Ich kam von der Bühne mit dem Gefühl, fünf Jahre Erfahrung gesammelt zu haben », oder den Star-Komponisten Ryūichi Sakamoto: « Der Mann ist genial: Er hat mit dem Yellow Magic Orchestra, einer Disco-Elektro-Band, Karriere gemacht, bevor er sich der Filmmusik zuwandte, und jetzt kehrt er zu sehr intimen Klavierklängen zurück. Er ist immer dort, wo man ihn nicht erwartet! » Ein Vorbild für Tristano, der Sakamoto als eine seiner drei ewigen Referenzen nennt, neben Paco de Lucia (« er ist weit über die Regeln des Flamencos hinausgegangen ») und Joe Zawinul, dem Keyboarder von Weather Report (« seine Kompositionen überraschen immer wieder durch ihren Mix aus Groove und Harmonie »).

Diese Künstler verkörpern die Freiheit im kreativen Schaffen, eine Freiheit, die in Zeiten der Ungewissheit über die Zukunft der Tonträger – « ein Format, das vom Aussterben bedroht ist, das ich aber immer verteidigen werde » – oder über die Auslastung der Konzertsäle, die seit dem COVID kaum noch Besucher:innen verzeichnen, notwendiger erscheint denn je. Dennoch behält der Pianist sein unerschütterliches Vertrauen in das Publikum: « Es ist unser wichtigster Verbündeter! Ein Konzert ohne Publikum ist doof, das haben wir während der Pandemie gesehen, als wir all diese Livestreams gemacht haben. » Und erinnert daran, dass musikalisches Schaffen immer mit Risiko und Unvorhergesehenem verbunden ist: « Man spielt nie gleich, je nachdem, wo das Konzert stattfindet: in einer Galerie, einem Park, einer Kirche, einem Club, einem Saal... Und jedes Mal bin ich der Botschafter eines wichtigen außergewöhnlichen Moments, in dem die Zeit anders tickt als sonst. »

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