Chris Thile & Brad Mehldau

Albumbeschreibung

„I Cover the Waterfront“ gehörte zu den Songs, die Billie Holiday am häufigsten live und auf Platten gesungen hat. In den 30er-Jahren boykottierten ihn etliche US-Radiosender; man befürchtete, seelisch fragile Personen könnten dabei Selbstmord begehen. Das in drei Tagen eingespielte Album von Thile & Mehldau, das so heiter und ausgelassen mit einem Falsettgesang Thiles beginnt, entpuppt sich als eine Suite über Leben und Tod, wobei „Waterfront“ eine Schlüsselfunktion zukommt.
Von irritierender Schönheit an diesem außergewöhnlichen Album sind der dünne, vergängliche Ton der Mandoline und die Power des Klaviers. Die beiden Weltklasse-Musiker bieten alle kreativen Kräfte auf, damit eine Balance aller Elemente entsteht. So inkompatibel diese Kombination aus David und Goliath zunächst auch erscheinen mag: Der Sensibilität und dem überragenden Können der beiden Musiker, die rein akustisch ohne irgendwelche technischen Hilfsmittel agieren, ist es geschuldet, dass daraus Hybride entstehen, wie man sie so noch nicht zu hören bekam.
Ausgetüftelte eigene Kompositionen ergänzen sich wunderbar mit handverlesenen Coverversionen, von einem irischen Folksong für Harfe aus dem 17. Jahrhundert über Bob Dylan- und Joni Mitchell-Songs bis zu Elliott Smith. Spätestens als Chris Thile die Violinsonaten und -partiten von Bach einspielte, wurde klar, welch ein außergewöhnlicher junger Musiker da am Werk ist. Im Winter 2015 traf er sich mit Mehldau für zwei Abende im Bowery Ballroom in New York; das danach im Avatar Studio, einem der besten der Stadt, eingespielte Doppelalbum vollzieht die längst fällige Hochzeit zwischen Jazz und Bluegrass. Das Highlight ist „Scarlet Town“. Der Wanderer kommt in den tiefen Süden, spürt nur Gleichgültigkeit um sich herum, blickt in einen tiefen Brunnen, schaut auf ein dunkles Grab und fühlt, er werde noch am selben Tage sterben. Themen aus Schuberts „Winterreise“, hineinprojiziert in die endlosen Weiten Amerikas.

© Lippegaus, Karl / www.fonoforum.de