Seit den Anfängen des Jazz waren manche seiner Schöpfer auch klassisch inspiriert, Komponisten beider Sphären entwickelten die Annäherung der Stile weiter.
Duke Ellington
Duke Ellington: Zu seinen Werken zählen Bigband-Suiten und Klassikbearbeitungen. © Archiv/Fono Forum

Afroamerikanischen Jazz und europäische Klassik in separate Welten aufteilen zu wollen, ist nicht erst heute ein unsinniges Unterfangen. Wer sich ihre Entwicklungswege ansieht, merkt schnell, dass beide sich von jeher wechselseitig inspirieren und beeinflussen. Eine Figur, die davon im wahrsten Sinne des Wortes ein Lied singen kann, ist Treemonisha. Die Protagonistin von Scott Joplins (*1868) gleichnamiger Ragtime-Oper über gesellschaftliche Weiterentwicklung und Selbstbestimmung durch Wissen trat nach Verfassen des Werks 1911 nur kurzfristig in Erscheinung. Leicht hatte es Joplin, der als zentraler Komponist des Ragtime wesentlich bekannter ist, mit der innovativen eineinhalbstündigen Oper nicht. Sie entstand in New York, wo er ab 1907 bis zu seinem Tod 1917 lebte. Drei anspruchsvolle, ausgearbeitete Sätze für Vokalisten und Orchester, die die synkopierten Rhythmen des Ragtime mit Elementen der klassischen Oper verbinden, während etwa zur selben Zeit in New Orleans der von Ragtime und Blues, Spirituals und Marching Bands beeinflusste Jazz aufblüht. Trotz zeitgemäßer Thematik und anspruchsvoller Gestaltung fand “Treemonisha” beim Publikum nicht annähernd die Zustimmung wie Joplins “Maple Leaf Rag” oder “The Entertainer”.

Mary Lou Williams
Mary Lou Williams verknüpfte Jazz und Klassik in ihrer „Zodiac Suite“ und in sakraler Musik. © Archiv/Fono Forum

Dennoch war es dem Afroamerikaner aus einfachen Verhältnissen und wohl berühmtesten Absolventen des George R. Smith College für Schwarze in Sedalia ein ureigenes Anliegen, für die klassische Bühne zu komponieren. Eine Ballettmusik hatte er bereits verfasst, seine erste Ragtime-Oper, A Guest Of Honor, war 1903 entstanden. Durch widrige Umstände aber verlor er einige Investitionen, die Partitur gilt als verschollen. Eine vollständige Inszenierung von Treemonisha erlebte er trotz vieler Bemühungen nie. Dazu kam es erst nach der Wiederentdeckung in den 1970er-Jahren. War Joplin seiner Zeit zu weit voraus? Dies mag neben dem verbreiteten Rassismus ein Einflussfaktor unter anderen gewesen sein. Für George Gershwins “Porgy And Bess” jedenfalls gestaltete sich die Situation völlig anders. Die Uraufführung 1935 in Boston kam als vollständige Inszenierung auf die Bühne, war sofort ein Erfolg und das Werk bald weltberühmt.

Zunächst aber erreichten in den 1920er-Jahren einige innovative Werke die Konzertsäle, die Jazz und klassische Orchestermusik integrierten. Sie wurden verfasst von James P. Johnson (*1894) und George Gershwin (*1898). Johnson kam mit seiner Familie als 14-Jähriger nach New York und wurde von Musikern unterrichtet. Bekannt wurde er vor allem für seine Rolle beim Übergang vom komponierten Ragtime zum teils improvisierten Harlem-Stride-Klavierstil, der vom Rag die charakteristische Bewegung der linken Hand aufgriff und den weiteren Weg des Jazz mitbestimmte. Johnsons 1921 auf Klavierrolle dokumentierter Carolina Shout gilt vielen als das erste aufgezeichnete Jazzklaviersolo, und zu seinem Charleston tanzte die halbe Welt. Davon abgesehen komponierte er viel für Show- und Musicalproduktionen am Broadway, ähnlich dem in Brooklyn in einer jüdischen Einwandererfamilie aufgewachsenen George Gershwin. Die beiden kannten und schätzten sich, gelegentlich ließ sich einer vom anderen inspirieren.

Es war allerdings Gershwin, den Paul Whiteman mit einer modernen Auftragskomposition für sein berühmtes “Symphonic Jazz”-Orchester betraute. So entstand die Rhapsody In Blue. Die Uraufführung in der New Yorker Aeolian Hall mit Gershwin selbst als Klaviersolist wurde dem Publikum 1924 als “an experiment in modern music” präsentiert und sofort zum Erfolg. In dem gut viertelstündigen einsätzigen Werk kontrastierte der Komponist Soloklavier- und Orchesterparts, schöpfte dabei aus der klassisch-romantischen Tradition und gleichermaßen aus Ragtime, Stride und Blues. Auffallend an Whitemans Orchester ist die Besetzung mit ­Bläsern und Streichern, die nicht nur für die Rhapsody galt. Es hatte sicher seinen Anteil, dass er als junger Musiker beim San Francisco Symphony Orchestra Viola spielte, bevor er sein jazzorientiertes Tanzorchester gründete. Auf Tourneen brachte er seine Musik in den 1920er-Jahren nach Europa. Ferde Grofé, Whitemans Mann am Klavier, arrangierte und komponierte ebenfalls. Seine Mississippi Suite von 1925 integriert Einflüsse afroamerikanischer Spirituals und von Mardi-Gras-Musik aus New Orleans und wurde bereits 1926 von den Berliner Philharmonikern zusammen mit frühen Jazzern interpretiert. In New York wiederum hatte Gershwin gleich 1925 ein neues jazzbeeinflusstes Werk uraufgeführt: sein dreisätziges Concerto in F für Klavier und Orchester.

Weniger bekannt als Gershwins Werke wurden, sicher zu Unrecht, einige anspruchsvolle Kompositionen von James P. Johnson. Vor allem die viersätzige über 20-minütige Harlem Symphony von 1932 integriert auf bemerkenswerte Art Einflüsse der klassisch-romantischen Tradition und frühe Formen des Jazz. Dabei steht das Orchester selbst im Mittelpunkt, wechselnde Instrumentalstimmen übernehmen kleine Soloparts. Programmatisch inspiriert, knüpft der Komponist an eine beschwingte Subway Journey (1. Satz) einen balladesken, in romantischer Melodik schwelgenden April In Harlem an (2. Satz), kontrastiert diesen mit einem heiteren, besonders jazzorientierten Ausflug in den Night Club (3. Satz), bevor es im orchestral-reflektierten, spiritual- und bluesgetränkten 4. Satz in die Baptist Mission geht. Es gab einige Konzerte mit diesem und anderen Orchesterwerken Johnsons in New York, doch ab Mitte der 1940er-Jahre waren sie verschollen. Den Bemühungen von Dirigentin Marin Alsop und Klaviersolist Leslie Stifelman und deren Kommunikation mit Johnsons Familie ist es zu verdanken, dass in den 1990ern mehrere vollständig orchestrierte Werke gefunden und buchstäblich entstaubt werden konnten. So gelangte die Harlem Symphony 1994 zur überfälligen Einspielung.

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Stride-Pionier James P. Johnson verfasste sinfonisches Repertoire für Orchester. © Archiv/Fono Forum

Charakteristische Eleganz bringt bereits Yamekraw mit, das Johnson, teils inspiriert durch die Rhapsody In Blue, komponiert hatte. Bei der Uraufführung in der Carnegie Hall 1928 spielte Fats Waller Soloklavier. Die Gestaltung der Orchester- und Klavierparts des einsätzigen Werks ist teils näher an der romantischen und klassischen Tradition als bei Gershwin. Dazu trug wohl die Orchestrierung durch den klassischen Komponisten William Grant Still bei. Andererseits werden Bluesharmonik und Spiritualeinflüsse elegant eingewoben. Während also Louis Armstrong aus New Orleans ab 1925 in Chicago mit seinen Hot Five und Hot Seven frühe Comboaufnahmen machte und dabei sein außergewöhnliches Solospiel entfaltete, das für Solisten im Jazz wegweisend wurde, erreichten parallel dazu von New York aus frühe Meisterstücke des orchestralen Jazz die klassischen Konzertsäle. Zwar musste sich Johnson in diesem Bereich mit relativ bescheidenen Erfolgen zufriedengeben, wurde aber durch seinen Harlem-Stride-Stil zum Idol für bedeutende Bigbandleader der anbrechenden Swingära wie Duke Ellington oder Count Basie und für die Weiterentwicklung des Jazzklaviers.

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William Grant Still brachte in seiner „Afro-American Symphony“ den Blues ins Orchester. © Archiv/Fono Forum

Einigen Erfolg hatte ein von Blues, Ragtime und Folk beeinflusstes, dabei aber vor allem klassisch gestaltetes Werk 1931: Die Suche nach dem “amerikanischen Sound”, die zu dieser Zeit so viele Komponierende aller Stile beschäftigte, hatte William Grant Still zu seiner viersätzigen Afro-American Symphony in As-Dur inspiriert. Die Uraufführung durch die Rochester Symphony mit Dirigent Howard Hanson erhielt Zuspruch, zahlreiche Orchester nahmen das Werk in ihr Repertoire. Durch dieses und ein enormes Spektrum weiterer Orchesterwerke wurde Grant Still (*1895) zu einem der ersten erfolgreichen schwarzen klassischen Komponisten. Oft arbeitete er mit blues- und jazznahen Musikern wie W.C.Handy, James P. Johnson oder Paul Whiteman.

Die Suche nach dem „amerikanischen Sound“ beschäftigte Komponierende aller Stile

Von der Sphäre des Jazz aus agierte Edward Kennedy “Duke” Ellington (*1899), aber mit Verknüpfungen in alle Richtungen. Aufgewachsen in Washington, ging er in den 1920er-Jahren nach New York, wo er bald eines der renommiertesten Jazzorchester leitete. Dass seine Auftritte im berühmten Cotton Club im Radio übertragen wurden, tat zu seiner Bekanntheit ein Übriges. Ellington war als Komponist so produktiv, dass ihm heute um die 2000 Stücke zugeschrieben werden. Abgesehen von Standards wie It Don’t Mean A Thing, In A Sentimental Mood oder Caravan zog es ihn auch zu klassischen Formen. Als er 1943 erstmals die Gelegenheit erhielt, in der Carnegie Hall aufzutreten, komponierte er die Orchestersuite Black, Brown And Beige. Sie umfasst sechs Sätze und schlägt auf originelle Art einen Bogen vom Bigbandswing über orchestrale Passagen bis zum Gospelsong. Gewidmet ist sie der Schwarzen Community, ihr Titel bezieht sich auf variierende Schattierungen der Hautfarbe. Während in Harlems Minton’s Playhouse mit Innovatoren wie Charlie Parker, Dizzy Gillespie oder Thelonious Monk und der Entstehung des Bebop schon die nächste Phase des Jazz begann, schlug Ellington in der Carnegie Hall einen Pflock für den orchestralen Jazz ein. Es blieb nicht der einzige. Ende der 1950er-Jahre ließ er Edvard Griegs Peer-Gynt-Suiten und Peter Tschaikowskis Nussknackersuite gewagte Jazzinterpretationen angedeihen. Ab 1965 bis zu seinem Tod 1971 komponierte er drei aufwendige stilintegrierende Sacred Concerts für Bigband, Chor und Solisten.

Weniger wahrgenommen, obwohl so innovativ wie anspruchsvoll, wurde die Musik von Mary Lou Williams (*1910). Die Künstlerin aus Atlanta war nicht nur eine Pionierin am Jazzklavier und Vorbild etwa für Thelonious Monk, sondern komponierte auch unzählige Werke. Eines der interessantesten ist die detailliert ausgearbeitete zwölfteilige Zodiac Suite, welche in einer gekonnten Verschmelzung von Jazz und klassischen Einflüssen die Sternzeichen musikalisiert. Williams spielte das dreiviertelstündige Werk 1945 im Trio ein, 1946 präsentierte sie mit dem Dirigenten und Arrangeur Milt Orent eine Version für Kammer­orchester in der New Yorker Town Hall. Überdies komponierte sie aufwendige Werke für Messen.

Immer wieder steuerten auch klassische Komponisten etwas zum jazzgefärbten Konzertsaalrepertoire bei. Bereits 1923 erklang im Pariser Théâtre des Champs-Elysées jazzbeeinflusste Ballettmusik: Im Auftrag des Ballet Suédois hatte Darius Milhaud La Création du monde komponiert. Igor Strawinskys 1945 für Woody Hermans Bigb

and verfasstes kompaktes Ebony Concerto für Klarinette und Jazzorchester hatte 1946 in der Carnegie Hall Premiere, Leonard Bernstein schrieb 1949 das kapriziöse wie kompakte Prelude, Fugue And Riffs für Klarinette und Jazzensemble. Doch ob vom Jazz oder von der Klassik ausgehend – die Versuche, beide Richtungen unter einen Hut zu bringen, führten in den 1950er-Jahren zur Verbindung von Modern Jazz und Neuer Musik unter dem Etikett Third Stream, der Wiege einer Avantgarde, deren Einfluss bis in die Gegenwart reicht.

Hörtipps

*Beitrag aus dem Fono Forum/Dezember 2023. Das monatlich erscheinende Magazin Fono Forum bietet mit seinen Rezensionen, Artikeln und Interviews einen umfassenden Blick über die neuesten Plattenerscheinungen sowie das Musikgeschehen der Genres Klassik und Jazz.