Lange galt Dino Saluzzi in seiner argentischen Heimat als seltsamer Vogel, dessen eigenwillige Klangkunst niemand so recht einordnen konnte. Seine Weltkarriere begann 1983 mit dem Soloalbum „Kultrum“. Jetzt präsentiert der 85-jährige Bandoneonista mit „Albores“ ein neues Meisterwerk im Alleingang.

Die Musik von Timoteo „Dino“ Saluzzi lässt sich ohne Kenntnis seiner Herkunft zwar emotional erleben, aber nur unvollkommen begreifen. Weil sowohl sein Wesen als auch sein Klangkosmos davon geprägt sind wie bei wenigen anderen Künstlern sonst. Hinzu kommt, dass der am 20. Mai 1935 in Campo Santo (deutsch: „Friedhof“) im provinziellen Norden Argentiniens geborene Musiker eigentlich zwei Leben hat. Eines vor 1982 und eines danach.

„Ich bin in einer kleinen Stadt in einem ,ingenio azucarero‘, einer alten Zuckerfabrik, geboren. Dort gab es nichts als den Ort, sehr schlechte Bedingungen“, sagt Saluzzi. Schon wenn man heutige Bilder dieser Ingenio San Isidro sieht, erkennt man, welch hartes Leben sein Vater Cayetano hatte, um die Familie zu ernähren. Tags arbeitete er in den Zuckerrohrfeldern, abends als Amateurmusiker, der Gitarre, Mandoline und Bandoneon spielte. So wuchs Dino mit Musik auf und mit jenem Instrument, das der Krefelder Heinrich Band um 1840 entwickelt hatte. Dass er ständig damit in Kontakt war, sei aber nur die rationale Erklärung dafür, dass er Bandoneon spiele, meint Saluzzi: „Heute scheint es für alles eine Erklärung zu geben, aber ich glaube, einige Dinge können nicht erklärt werden. Dinge und Menschen haben ein Schicksal, und das Schönste ist, dieses Schicksal zu erfüllen. Das nenne ich ,el viaje‘, die Reise. Auch leblose Gegenstände, wie Musikinstrumente, haben ihre Reise.“ Und mit einem Seufzer, als ob er das Offensichtliche erkläre, fügt er hinzu: „Das Bandoneon kam zu mir und nahm mich mit.“

Mit sieben Jahren bekommt er vom Vater erstmals Musikunterricht – auf eben dem Bandoneon, das er seither spielt. „Auf den Feldern zu arbeiten war richtig hart, und er wollte nicht, dass ich das mache“, erinnert er sich: „Er wollte etwas anderes für mich und trieb mich an mit den Worten: ,Ich gehe zur Arbeit auf die Felder, Deine Arbeit ist, zu lernen und zu üben.‘“ Das Bandoneon sei wie ein Spielzeug für ihn gewesen: „Ich hatte es immer dabei, war immer in seiner Nähe.“ Mit 14 spielt er bereits professionell, um wenig später in die Provinzhauptstadt Salta umzuziehen. Nicht sonderlich weit weg, doch „60 Kilometer waren damals eine Welt entfernt. In den Kleinstädten gab es kaum Möglichkeiten einer musikalischen Ausbildung. Wenn wir jetzt beginnen aufzuholen, kann man sich vorstellen, wie es vor 60, 70 Jahren war.“ Und dann trifft Saluzzi in seiner bedächtigen Art eine Feststellung, die für seine Musik essenziell ist: „Mein erstes Exil führte mich aus dem kleinen Dorf Campo Santo nach Salta. Es brach mir das Herz, denn wer will nicht dort leben, wo er geboren wurde? Von diesem Moment an prägte mich das Instrument. Ich bin immer weg – und doch nie ganz weg von diesem Ort. Und man kann nicht zurückgehen. Wenn man das tut, merkt man, dass das, was einmal war, nicht mehr da ist.

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