Er war einer der größten Komponisten und Saxofonisten des Jazz. Mehr als 70 Jahre stand der unlängst verstorbene Wayne Shorter auf der Bühne. Zuletzt komponierte er, bereits im Rollstuhl, noch ein anspruchsvolles Opernwerk.

Es war immer die Melodie, die für Wayne Shorter im Vordergrund stand. Als Erzählung, die in eine Märchen-, Comic- oder Science-Fic­tion-Welt führte, in andere Länder und Zeitebenen oder in ein Bekenntnis. Wie in Speak No Evil, seinem dritten Album für Blue Note von 1964, das seiner ersten Ehefrau gewidmet war und 1966 veröffentlicht wurde. Das Titelstück zählt zu den bekanntesten des Jazz, eine langsame, zärtliche und gleichzeitig zerrissene Melodie, aus der sich Shorters Solo herauslöst. Wie ein Bildhauer, der eine Figur formt und zu einem Monument erhebt. Mit Speak No Evil streifte er den Hard Bop ab und übernahm kompositorische Elemente von Varese und Strawinsky in sein Spiel.

Der Spirit des Jazz ist das Ausbrechen aus dem Gewohnten, ein revolutionärer Akt

1964 – das Jahr, als der Civil Rights Act die Rassentrennung aufhob, Martin Luther King den Friedensnobelpreis erhielt und die USA in den Vietnamkrieg eintraten. Für Wayne Shorter markiert 1964 den Beginn seiner Zusammenarbeit mit Miles Davis, nachdem er fünf Jahre bei Art Blakey’s Jazz Messengers gespielt und als musikalischer Leiter für die Band komponiert und arrangiert hatte. Mit Miles tritt er am 12. Februar 1964 in der New Yorker Philharmonic Hall auf, bei einem Benefizkonzert der Bürgerrechtsbewegung für das « Vot­er Education Project » in Louisiana und Mississippi. Shorter ist 30 Jahre alt und persönlich wie musikalisch an einem Wendepunkt.

Wayne Shorter erlernte erst spät ein Instrument. Am 25. August 1933 in Newark, New Jersey, geboren, in der Zeit der Wirtschaftskrise, wuchs er im dortigen Industrieviertel Ironbound auf. Sein Vater arbeitete als Schweißer in der Nähmaschinenfabrik Singer, seine Mutter als Näherin. Der zeichnerisch begabte Shorter, begeistert von Comics und Science-Fiction – eine Leidenschaft, die bis zu seinem Tod anhielt –, gewann im Alter von zwölf Jahren einen landesweiten Kunstwettbewerb und damit einen Platz in der Newark Arts High School, der ersten öffentlichen High School des Landes, die auf bildende und darstellende Kunst spezialisiert war. In einem Interview sagte er: « Als wir Kinder waren, ließen unsere Eltern uns den ganzen Tag draußen spielen, und es gab einen von Pferden gezogenen Milchwagen, der sich in meiner Vorstellung in alles Mögliche verwandeln konnte, wie ein Raumschiff. »

Mit seinem älteren Bruder Alan ging er oft ins örtliche Kino, anschließend wurden dort Bühnenshows und Konzerte gegeben. Nachdem er Dizzy Gillespie gehört hatte, schwänzte er seine Zeichenkurse und trieb sich im nahe gelegenen Instrumentengeschäft herum. Zuerst kaufte er sich von seinem Taschengeld eine kleine Plastikflöte, mit 15 Jahren erhielt er von seiner Mutter und seiner Großmutter eine gebrauchte Klarinette, ein Jahr später kam das Tenorsaxofon dazu. Die Klarinette von damals habe er immer noch, erzählte er letztes Jahr dem Hip­Hop-Produzenten und Schlagzeuger der Gruppe The Roots, Questlove, für dessen Video-Podcast « Supreme ». Damals habe er sechs Stunden am Tag Tonleitern geübt und versucht, die Platten von Gillespie und Strawinsky nachzuspielen, die er sich in der Bibliothek ausgeliehen hatte. Wayne gefiel der lässige Stil der Bebopper mindestens ebenso wie deren Musik. Er trat im Anzug auf und legte anstelle von Notenblättern die aktuelle Tageszeitung aufs Pult. Der Dichter Leroi Jones (später: Amiri Baraka), ebenfalls aus Newark, erinnerte sich, dass es damals hieß « Weird as Wayne », und Shorter beschriftete seinen Saxofonkoffer mit « Mr. Weird ».

Shorter arbeitete mit Horace Silver und im Orchester von Maynard Ferguson, bevor er 1959 durch Vermittlung des Trompeters Lee Morgan von Art Blakey abgeworben wurde. Mit dessen Messengers spielte er bedeutende Aufnahmen ein wie A Night In Tunesia (1960) und Mosaic (1961). Als Miles Davis nach dem Weggang John Col­tranes einen neuen Saxofonisten suchte, empfahl « Trane » Wayne Shorter. Ab 1965 entstand so das zweite Miles Davis Quintet, das zahlreiche Shorter-Kompositionen spielte, darunter das Titelstück des Albums Nefertiti, bei dem sich die Melodie aufeinanderfolgend wiederholt und keine Soli gespielt werden. Parallel zur Arbeit bei Davis nahm der Saxofonist eigene Alben für Blue Note auf.

Shorter blieb bei Miles bis zu dessen In A Silent Way und dem epochalen Album Bitches Brew von 1969, das einen radikalen Neuanfang beschrieb. Mit Joe Zawinul (Keyboards) hatte er schon bei den Aufnahmen zu In A Silent Way über die Gründung einer gemeinsamen Band gesprochen. Zusammen mit dem Bassisten Miroslav Vitouš gründeten die beiden 1970 die Jazzrock-Gruppe Weather Report mit herausragenden, stilprägenden Alben wie Black Market (1976) und Heavy Weather (1977). Die Gruppe war kommerziell so erfolgreich, dass sich Shorter bereits 1972 mit seiner zweiten Frau und der gemeinsamen Tochter einen Umzug nach Los Angeles und ein Haus leisten konnte. Der Hauptgrund war aber die schwere Erkrankung seiner Tochter und der von einem Arzt empfohlene Klimawechsel. Seit 1973 war Shorter Buddhist. Im Interview mit Questlove, der Shorter zum Pionier, musikalischen Architekten und größten Zeitreisenden der Jazzgeschichte erklärt, verriet er, dies habe ihm geholfen, die Krankheit seiner Tochter, später ihren Tod und den seiner Frau akzeptieren zu können.

Während der Zeit mit Weather Report wechselte Shorter zum Sopransaxofon und entwickelte einen abstrakten, minimalistischen Stil mit dem Ansatz, die traditionelle Trennung von Solist und Begleitung aufzuheben. Er erklärte diese Musik zur « Folkmusic der Zukunft ». Nach Auflösung der Band 1986 spielte er auf großen Bühnen mit Carlos Santana, den Rolling Stones, Steely Dan und auf mehreren Alben von Joni Mitchell, darunter Mingus, ein Requiem für den 1979 verstorbenen Bassisten Charles Mingus. 1997 nahm er mit seinem langjährigen Freund und Weggefährten Herbie Hancock, der schon bei Speak No Evil dabei war, das lyrische Duoalbum 1+1 auf.

Im Jahr 2000 gründete Shorter sein bis zuletzt aktives akustisches Quartett mit Danilo Pérez (Klavier), John Patitucci (Kontrabass) und Brian Blade (Schlagzeug), mit dem er auch einige seiner frühen Kompositionen neu interpretierte. 2017 erhielt er den renommierten schwedischen Polar Music Prize. Im November 2021 wurde seine Oper Iphigenia, mit Libretto von Esperanza Spalding, in Boston uraufgeführt – ein Herzensprojekt Shorters, der das Werk für Kammerorchester, Jazztrio, Solostimmen und Chor komponierte. Im September 2022 erschien das 2017 aufgenommene Konzert Live At The Detroit Festival, mit Schlagzeugerin Terri Lyne Carrington, dem Pianisten Leo Genovese und der Bassistin und Harvard-Professorin Esperanza Spalding, mit einer berührenden Neuinterpretation seiner Komposition Midnight In Carlotta’s Hair.

Das Album gewann noch im Februar 2023 den Grammy als bestes Jazz-Instrumentalalbum. Neben fünf Ehrendoktoraten und zahllosen Preisen war dies der zwölfte Grammy, mit dem Shorter ausgezeichnet wurde, davon einmal für sein Lebenswerk. Den Jazz verstand er als kulturellen DNA-Code. « Der Spirit des Jazz ist das Ausbrechen aus dem Gewohnten, ein revolutionärer Akt. » Am 2. März 2023 starb Wayne Shorter in einem Krankenhaus in Los Angeles. Er wurde 89 Jahre alt.


*Beitrag aus dem Fono Forum/Mai 2023. Das monatlich erscheinende Magazin Fono Forum bietet mit seinen Rezensionen, Artikeln und Interviews einen umfassenden Blick über die neuesten Plattenerscheinungen sowie das Musikgeschehen der Genres Klassik und Jazz.


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