Das berühmteste Jazz-Label machte alles richtig! Hochkarätige Künstler, originelle Repertoires, raffinierte künstlerische Leiter, die sich assoziierten, einzigartige Tonaufnahmen, ästhetisch herrliche Plattencovers, vielerlei Genres (Be-Bop, Hard Bop, Soul Jazz, Modal Jazz, Free Jazz) – alles war unter den Einspielungen dieses Labels zu finden, das 1939 von Francis Wolff und Alfred Lion, diesen beiden aus dem Nazi-Deutschland geflüchteten Deutschen gegründet wurde. Aus diesem umfangreichen Katalog hat Qobuz 10 essentielle Alben ausgewählt. Einige davon sind gefeierte Klassiker. Andere wiederum sind nicht ausreichend geschätzte Wunder. Alle sind jedoch unumgänglich und haben die Blue Note-Ästhetik mitgestaltet.

John Coltrane – Blue Train (1958)

Der Blue Train-Coltrane ist dabei, sich im eigenen Interesse in vielfacher Hinsicht abzunabeln. Die Einspielung der einzigen Platte des Saxofonisten als Leader bei Blue Note erfolgte am 15. September 1957 unter der Regie von Rudy Van Gelder und wurde von Alfred Lion produziert. Zuallererst ist anzumerken, dass Trane auf eigene Faust die Musiker wählte, mit denen er sich umgab, und diese gingen bei Miles Davis Gruppe und den Jazz Messengers von Art Blakey regelmäßig ein und aus: der Trompeter Lee Morgan, der Posaunist Curtis Fuller, der Pianist Kenny Drew, der Kontrabassist Paul Chambers und der Schlagzeuger Philly Joe Jones. Zu jener Zeit spielt dieser Coltrane im New Yorker Five Spot im Quartett von Thelonious Monk. Stilistisch gesehen versuchen sich die Leute in einer nicht ganz orthodoxen Art von Hard-Bop-Variante. Der echte Coltrane-Sound, der in die Ewigkeit eingehen sollte, ist noch nicht ganz ausgereift. Das Ergebnis ist eine total verrückte, aber herrliche Platte mit wunderbar schönen Themen (die alle Coltrane zu verdanken sind, abgesehen vom Klassiker I’m Old Fashioned (der von Mercer und Kern stammt) und interpretiert werden sie von sechs Musikern, die wie nie zuvor miteinander in ein Gespräch vertieft sind. Von den unwiderlegbar modernen Improvisationen ganz zu schweigen!

Grachan Moncur III – Evolution (1964)

Mit dem im Jahre 1963 eingespielten und ein Jahr später veröffentlichten Evolution begrüßt die Plattenwelt einen allzu diskreten Giganten. Grachan Moncur III wird endlich zum Leader, wo doch der Name des kaum 25-Jährigen bereits auf dem Cover eines Herbie Hancock, Benny Golson, Jackie McLean oder auch Art Farmers aufgetaucht war… Im vorliegenden Fall hat der Posaunist aus New York zahlreiche Gesellschafter des Labels von Alfred Lion und Francis Wolff um sich geschart: den Trompeter Lee Morgan, den Saxofonisten Jackie McLean, den Vibrafonisten Bobby Hutcherson, den Bassisten Bob Cranshaw und den Schlagzeuger Tony Williams. Alle zusammen präsentieren sie eine unglaubliche, recht avantgardistische Neo-Hard-Bop-Komposition, die wirklich verblüffend ist. Die ganze Musik komponierte Moncur selbst und sie ist recht ehrgeizig, oft mysteriös und ziemlich düster. Mitten in den in aller Freiheit stattfindenden Interaktionen lässt der junge Posaunist immer wieder reichlich freien Platz. Evolution ist wirklich ein einzigartiges Album und zeigt im Endergebnis eine recht besondere Note, sodass es in der weitläufigen Diskografie des Labels Blue Note einen vorrangigen Platz einnimmt.

Herbie Hancock – Inventions & Dimensions (1964)

Wenn von Herbie Hancock bei Blue Note die Rede ist, dann landet man in 90 % der Fälle bei Maiden Voyage, diesem im Jahre 1965 veröffentlichten Album, das wegen seiner fünf Themen voller Schönheit (Maiden Voyage, The Eye of the Hurricane, Little One, Survival of the Fittest und Dolphin Dance) und dank der recht originellen Spielweise seines Urhebers grundlegend ist. Zählt aber Inventions & Dimensions in der Zwischenzeit etwa zu jenen Platten, die ganz falsch eingeschätzt worden waren? Nach Takin' Off (1962) und My Point of View (1963) entscheidet sich der zu jener Zeit erst 23-jährige Pianist für eine untypische Besetzung, bei der die Schlaginstrumente absichtlich in den Mittelpunkt gestellt werden. Zusammen mit dem Kontrabassisten Paul Chambers, dem Schlagzeuger und Paukenspieler Willie Bobo und dem Perkussionisten Osvaldo „Chihuahua“ Martinez wagt er einen Winkelzug mit experimentellem, afrokubanischem und für jene Zeit recht avantgardistischem Jazz. Bei dieser am 30. August 1963 erfolgten Einspielung, der dritten bei Blue Note, präsentiert er eine hervorragende, zugleich virtuose und reife Leistung am Klavier. Seine eigens bearbeiteten lateinamerikanischen Passagen, seine komplexen, klug durchdachten Rhythmen und seine immer mal wieder auftauchenden, repetitiven Motive beweisen, dass Inventions & Dimensions seiner Zeit besonders voraus war.

Wayne Shorter – Speak No Evil (1965)

Cover! Casting! Kompositionen! Das am Weihnachtsabend des Jahres 1964 aufgezeichnete sechste Album von Wayne Shorter ist die Krönung einer Kombination zwischen Hard Bop und Modal Jazz. Der Saxofonist, der seit kurzem Mitglied von Miles Davis‘ berühmtem zweiten Quintett ist, taucht hier mit zwei großen Nummern auf: Herbie Hancock am Klavier und Ron Carter am Kontrabass. Und wer sind die beiden anderen Übeltäter bei dem größten Coup des Jahrhunderts? Der Schlagzeuger Elvin Jones und der Trompeter Freddie Hubbard. Für diese Session hat Shorter sechs neue Stücke geschrieben und was ihn dazu inspiriert hatte, verrät er im Covertext. Dabei erklärt er, dass er an „nebelige Landschaften mit wilden, seltsamen Pflanzen, an diese sagenumwobenen, berüchtigten Orte“ dachte. „Auch Sachen wie Hexenverbrennung hatte ich im Kopf gehabt.“ Sechs Themen, die uns daran erinnern, dass er wohl einer der begabtesten Jazzkomponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist… Die Interaktionen zwischen den fünf Männern, die Rhythmuswechsel oder auch ganz einfach die Phrasierung des Masters of Ceremonies machen Speak No Evil zu einem genialen Werk! Irgendwie seltsam im Hinblick auf eine Platte, die bei ihrer Veröffentlichung nicht gerade in den Himmel gelobt worden war…

Thelonious Monk – Genius of Modern Music Vol. 1 & Vol.2 (1951)

Schon von Anfang an als Leader bis zum Ende der vierziger Jahre ist alles da! Er spielt mit kubistischer Formensprache, verwirrt uns mit seinen Ausuferungen, nimmt die Melodien auseinander, zeigt Rhythmusgefühl wie noch nie jemand zuvor und präsentiert geniale Kompositionen (Straight No Chaser, Round About Midnight, Well You Needn’t und Ruby My Dear sind auf diesen legendären Einspielungen zu hören!). Anhand von herrlichen Dissonanzen und raffiniert pervertierten Melodien erklimmt Thelonious Monk mit seinem Klavier bahnbrechende Höhen. Diese Modernität respektiert nichtsdestotrotz einen gewissen Grad an Tradition. Nur hält sich der amerikanische Pianist nicht an die Spielregeln, weder wenn er komponiert noch wenn er auf dem Klavier spielt. Und bereits bei den legendären, im Herbst 1947 erfolgten Einspielungen für Blue Note mit dem Schlagzeuger Art Blakey, den Trompetern Idrees Sulieman und George Taitt, den Saxofonisten Danny Quebec West, Billy Smith und Sahib Shihab sowie den Kontrabassisten Gene Ramey und Bob Paige erfindet Monk ganz einfach das, was später der Modern Jazz werden sollte.

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