Als „schwarze Göttin“ wurde die US-Sopranistin Jessye Norman verehrt – überraschend ist sie mit 74 Jahren gestorben. Eine Würdigung beim Hören von sieben Aufnahmen.

Welch bittere Ironie: Als Jessye Norman am 12. Dezember 1969 die Elisabeth in Wagners „Tannhäuser“ an der Deutschen Oper Berlin sang – es war ihr Haus- und Rollendebüt –, wurde sie weiß geschminkt. Die Tochter von selbstbewussten, in der Bürgerrechtsbewegung engagierten schwarzen US-Amerikanern wurde ihrer Identität beraubt. Aus heutiger Perspektive, in Zeiten, in denen das Blackfacing verpönt ist und ein weißer Othello-Sänger weiß bleibt, ein befremdender Vorgang. Ein halbes Jahrhundert macht den Unterschied. Fünfzig Jahre, in denen Jessye Norman als Sängerin beinahe alles erreicht hat mit dem Geschenk ihrer reichen Stimme, deren charakteristisches Timbre ihr ein emblematisches Profil verlieh. Norman, die am 30. September in New York City im Alter von 74 Jahren an den Folgen einer Rückenmarksverletzung gestorben ist, musste wegen ihrer Hautfarbe nicht mehr auf den Opern- und Konzertbühnen um Anerkennung kämpfen. Sie hatte das Glück, dass Sängerinnen wie Marian Anderson, Dorothy Mainor (sie war die erste Schwarze, die bei der Amtseinführung eines Präsidenten der USA singen durfte), Grace Bumbry und die von ihre bewunderte Leontyne Price manches bereitet haben. Doch sie wusste, Rassismus ist nach wie vor verbreitet; sie verstand es als ihre Pflicht, sich für Menschenrechte und Gleichberechtigung einzusetzen. Vor dem familiären Hintergrund war es für sie unmöglich, „kein politischer Mensch“ zu sein. Der Satz fiel auf Deutsch in André Hellers Film über sie („Ich leb allein in meinem Himmel, meinem Lieben, meinem Lied“, 2005). Ergreifend Normans a cappella vorgetragenes „Amazing Grace“ beim Konzert 1988 in London zu Ehren des damals noch inhaftierten Nelson Mandela, anlässlich dessen 70. Geburtstages: Wie eine Urmutter des stolzen afrikanischen Kontinents stand sie da im Abendwind im Wembley-Stadion.

Liederabend Hohenems 1987 (Philips)

Vielleicht war Jessye Norman am besten, wenn sie für ein Publikum sang. Der Soziologe Michael Eric Dyson sagte bei Normans Trauerfeier, dass sie „black girl magic“ gehabt habe, bevor es den Begriff überhaupt gab, bevor man damit Oprah Winfrey, Beyoncé und Michelle Obama bedachte. Normans Liederabende in den 80er- und 90er-Jahren wurden zu Kultfeiern, die großen Opernhäuser ein letztes Mal gesteckt voll. Die schwarze Göttin, eine Erscheinung von machtvoller Statur, betrat das Podium in weite Stoffe gehüllt, bemalte Seide, Chiffon, Crepe de Chine. An solchen Abenden, dem Camp nahe, schien sie die Sterne vom Himmel zu holen, und man meinte, sie sänge für jeden einzelnen im Publikum. Bei der Schubertiade in Hohenems 1987 präsentierte sie eines dieser typischen Programme, vokaltechnisch war sie nie besser. Man höre nur Schumanns „Auf einer Burg“ aus dem Liederkreis op. 39: das Legato nie unter Stress, die Verbindung von tiefer Lage und oberer Mittellage perfekt. Und hat je eine Amerikanerin ein so beinahe makelloses Deutsch gesungen, Vokale, Konsonanten und Endsilben in Worten wie Schmerz und Lauer lautfarblich korrekt gebildet? Das Konzert in Vorarlberg, mit dem großartigen Geoffrey Parsons am Klavier, endete wie so oft mit Zugaben von Brahms und Strauss sowie Spirituals, darunter ihr Signetstück „He’s Got the Whole World in His Hand“. Normans Gotteslob, das sie leise und staunend begann und es in eine Art Ekstase steigerte, versetzte die Zuhörer in eine ebensolche. Und dann strahlte diese schöne Frau, leuchtete ihr Gesicht wie wenige Gesichter leuchten, dann lachte sie staunend, strahlend, als habe sie eben ein Wunder erlebt.

Liederabend Salzburg 1991 (Orfeo)

Ein weiterer Liederabend, am 6. August 1991 im Großen Festspielhaus in Salzburg mitgeschnitten, der die Ahnung auratischer Größe bewahrt und wegen des Repertoires Aufmerksamkeit verdient. Wunderbar das chansonhaft getönte „Rondel“ aus Peter Tschaikowskys „Six chantes“ op. 65 (von den sechs Nummern sang sie vier) und der „Engel“ aus den Wesendonck-Liedern von Richard Wagner, bei dem Norman wieder einmal demonstrierte, dass Singen auf Atem(-technik) basiert. Arnold Schönbergs „Brettl-Lieder“ schillern live frivoler („Galathea“) als in der Studiofassung. James Levine ist ihr ein sinnstiftender Partner am Klavier. Verblüffend, wie Norman zu jener Zeit ihre enorme Stimme zu verschlanken wusste, federleicht fliegen ließ, erzählerisch flötete. Nur die „Habanera“-Zugabe zeigt Grenzen, wenn die Gestaltungintelligenz allzu trickreich zupackt. Dann präsentiert Norman die Carmen als Erotik-Dozentin bis zur Manier – weswegen die Gesamtaufnahme unter der Leitung von Seiji Ozawa 1988 ziemlich verunglückt ist.

Berlioz: La Mort de Cléopâtre (1982, Deutsche Grammophon)

Sopran oder Mezzo? Normans Stimme lässt sich nicht einordnen. Ihrem energischen Charakter entsprechend beschied sie einem deutschen Journalisten, der wissen wollte, was für ein Sopran sie denn nun sei: „Ich denke, Schubladen sind nur für Socken gut“ – zu lesen in ihrem Erinnerungsbuch mit dem Titel „I Sing the Music of my Heart“ (2015, dtv). Tatsächlich übernahm sie beispielsweise den Altpart in Levines Aufnahme der Missa solemnis und sang Berlioz᾽ Kantate „La Mort de Cléopâtre“, eine Partie für Mezzo- soprane – und das fabelhaft: Schallend nimmt sie in der Einleitung das alternative hohe B. Ihr Studium mit dem französischen Bariton Pierre Bernac in Michigan hatte den Grundstein für ihr idiomatisches Französisch gelegt. Sie liebte das Land und seine Kultur, sang die Lieder von Ravel, Duparc, Poulenc und Satie, die Titelpartie in Faurés „Pénélope“ sowie Cassandra und Dido in Berlioz’ „Les Troyens“. Und bei den Zweihundertjahr-Feierlichkeiten zur Erstürmung der Bastille durfte sie 1989 gehüllt in die Farben der Trikolore die „Marseillaise“ singen.

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