Fortuna Ehrenfeld sind mit ihrer neuen Platte “Glitzerschwein” zurück und manifestieren ihre Stellung in der deutschen Popszene — zwischen Melancholie, Dada und Krawall. Wir durften Martin Bechler, Sänger, Komponist und Seele der Band treffen und ein bisschen hinter die Fassaden des Frontman im Schlafanzug blicken…

Es ist Freitag, der 8. September und VÖ-Tag bei Fortuna Ehrenfeld. Klickt man sich durch die Websites und Posts der aktuellen Musiknachrichten, so springen einem fast nur Superlative zu Fortuna Ehrenfelds neuem Release Glitzerschwein ins Auge: “Die neue Messlatte für Popmusik” (MZ), “Einer der größten Songschreiber der Neuzeit” (SCHALL Magazin), “Fortuna Ehrenfeld treffen mitten in’s Herz” (Stern)... In diesem ganzen Laudatio-Trubel schaffen wir es auf wundersame Weise, selbst noch kurzfristig einen Termin mit Martin Bechler — Sänger, Komponist und tragende Säule der Band — zu ergattern, wobei ich aufgeregt vor der Laptop-Kamera auf unseren Protagonisten warten und dieser kurz darauf gut gelaunt und extrem entspannt für diesen wichtigen Tag erscheint. Doch bevor ich mit dem Fragenkatalog überhaupt beginnen kann, bombardiert mich Bechler selbst mit Fragen über Qobuz und unsere Plattform, sodass ich mir kurzzeitig nicht mehr sicher bin, wer hier eigentlich mit wem ein Interview führt. Doch ich bekomme noch die Kurve: Der VÖ-Tag! Glitzerschwein! Wie nimmt der Kölner Liedermacher selbst diesen Hype gerade wahr? “Es rauscht einiges durch den Wald gerade”, antwortet er selbstbewusst und demütig zugleich und fügt hinzu:

“Das ist ein sehr dichter Markt und da muss man präzise arbeiten. Ich bin ja nicht nur der Kasper im Schlafanzug, sondern auch Geschäftsführer. Meine Aufgabe ist es, diesen Betrieb und meine Leute anständig zu bezahlen und zu behandeln und in eine blühende Zukunft zu führen. Es ist vollkommen klar, dass man nichts geschenkt bekommt. Aber seit anderthalb Jahren merken wir, dass diese Arbeit sich gelohnt hat und wir wirklich Wind in den Segeln haben. Das findet statt, ohne dass man so hecheln muss. Die ganze Zeit ploppen quasi automatisch Dinge auf, wo man sieht — und ich denke auch durch die schönste Promotion, dem “Hören-Sagen” —, dass es so langsam durchrutscht. Das ist ein ganz tolles Gefühl. Denn wir wollen nicht durch Bots, sondern durch Menschen mehr Publikum bekommen.”

Fortuna Ehrenfeld
Fortuna Ehrenfeld. Martin Bechler (rechts) zusammen mit Schlagzeuger Jannis Knüpfer und Elin Bell (Gesang, Keybord) © Christian Ohlig

Der Schlafanzug — Fortuna Ehrenfelds markantes Markenzeichen, welches tatsächlich nicht nur als extrem bequemes Bühnenoutfit herhalten kann, sondern, laut Bechler selbst, “eine Rüstung und Schutz darstellt, die mich von den Strahlen der bösen Aliens aus dem Weltraum abhält.” Spätestens hier können wir bestätigen, dass unser Gegenüber nicht nur in seinen Texten, sondern auch in Person viel Feinsinn für Humor und Ironie besitzt. Doch wer steckt eigentlich genau hinter dieser Rüstung?

Martin Bechler ist kein unbekanntes Gesicht in der Musik- und Medienlandschaft. Bevor das Bandprojekt Fortuna Ehrenfeld startete, war er über 25 Jahre als selbständiger Produzent sowie Textdichter für das ein oder andere Theater tätig. Er kennt die Musikszene in- und auswendig, doch bringt das auch Vorteile mit sich, sich so gut in der eigenen Branche auszukennen? “Ja, auf jeden Fall”, bestätigt uns Bechler. “Ich habe wirklich alles in meinem Leben gemacht. Ich hatte ein Tonstudio mit meiner Produktionsfirma in Köln und ich durfte breit gefächert arbeiten — von der Hörbuchaufnahme über den Chef-Produzenten bis zur großen Oper oder dem letzten dreckigen Punkrock-Album. Als ich an dem Punkt war, Fortuna Ehrenfeld zu meinem Beruf zu machen, hatte ich das Gefühl, dass ich durch diese jahrelange Arbeit bis in den letzten Winkel der Medienbranche, alles wie einen prall gefüllten Werkzeugkoffer gesammelt hatte, den ich nur aufklappen muss und wo mich bedienen kann.”

2016 sollte dann das Bandprojekt mit seinem ersten Album Das Ende der Coolness, Vol. 2 das Licht der Welt erblicken und spätestens mit dem Nachfolger Hey Sexy die deutsche Musikwelt auf sich aufmerksam machen. Doch was war der Auslöser, von hinter den Kulissen nach vorne zu pirschen? “Das habe eigentlich nicht ich entschieden, sondern andere”, erklärt uns Bechler. “Für mich war Fortuna Ehrenfeld eine Feierabend-Geschichte. Ich hatte in meiner Tätigkeit immer mal für andere Leute geschrieben, doch das war alles vollkommen unter dem Radar, wie für Mini-Theaterstücke oder Hinterhof-Sachen. Daraus erwuchs dann eine regelmäßige Tätigkeit des Schreibens, auch für die großen Häuser wie das Schauspielhaus Düsseldorf. Das, was man auf den ersten beiden Fortuna-Platten hören kann, war davon der Mülleimer.”

Dass Stücke wie Pizzablitz oder Glitzerschwein selbst für die kleinen Theaterstücke und Regisseur:innen zu schräg waren, musste Bechler mit Fassung tragen, doch der Stapel an Liedern wurder größer und größer bis er sich schließlich mit Mitte 40 Butter bei die Fische machte und sich dachte: “Das ist eigentlich das, was funkelt. Es funkelt im Dreck, aber man könnte es frei polieren. Und so habe ich einfach angefangen, diesen Mülleimer auf der Bühne zu spielen und plötzlich waren die Theater voll.”

Nicht lange und das “Hobby-Projekt” Fortuna Ehrenfeld kam an einen Punkt, wo eine Entscheidung getroffen werden musste: “’Wird das jetzt mein Beruf?’ Aber in dem Moment, in dem ich mir diese Frage stellte, ist mir klar geworden, dass sie schon längst beantwortet ist. Wenn ein vollbesetztes Gloria mit 900 Leuten von vorne bis hinten kurios-schräge Lieder wie “Der Puff von Barcelona” aus lauter Kehle mitsingen, dann gibst du das nicht mehr her.”

Doch nach dem Konzert ist vor dem Konzert und so baute sich Bechler in den letzten Jahren ein Kleinunternehmen auf, das Fortuna Ehrenfeld mit jeder neuen Platte ein Stück weiter in den deutschen Indie-Himmel aufsteigen lässt. Angefangen beim Label Grand Hotel van Cleef, gründete Bechler 2021 sein eigenes Label tonproduktion records, welches er mit viel Herzblut, Leidenschaft und Energie hegt und pflegt: “Wir sind wie ein gallisch geschütztes Dorf, wir wählen die Leute ganz genau aus, die wir zu uns reinlassen.”

Wir sind wie ein gallisch geschütztes Dorf, wir wählen die Leute ganz genau aus, die wir zu uns reinlassen.

Und die Fortunesen haben einen Gallier, mit dem sie sicher sein können, dass er das Gefährt bis in den letzten Winkel steuert und bis auf die Knochen verteidigen wird: “Bis heute ist es so: Ich schreibe die Lieder, ich arrangiere sie, ich bin der Recording-Engineer, ich mische sie und zum Mastern gebe ich sie dann weg, dass wenigsten dann noch EINE PERSON kommt und mich von den übelsten Fehlern bewahren könnte. Ich mache das alles selber, weil ich erstens das Know-How habe und mir zweitens nicht reinreden lasse. Sobald ein Wort oder eine Zeile für mein bescheidenes Verständnis von Flow und Kunst nicht sitzt, werde ich diesen Song nicht veröffentlichen. Das heißt, alle Kämpfe, die ich auszufechten hatte, waren in meinem Kopf. Die waren heftig, aber ich habe gewonnen!” fügt er lachend hinzu. “Ich habe eine gewisse Vorstellung von der Unternehmenskultur, so klein dieses Unternehmen ist, und die prügel ich gnadenlos durch. Ob ich dabei alles richtig mache, weiß ich nicht. Aber ich kann zumindest abends schlafen gehen und mir sagen, wenn es schiefgeht, dann muss ich das nur mit mir selbst ausfechten.”

Klare Ansage von Herrn Bechler, doch wir möchten es noch ein bisschen genauer wissen: Fällt es ihm denn schwer, Entscheidungen zu treffen? Er schüttelt den Kopf: “Ich komme aus einer Arztfamilie. Mein Vater war der Dorfdoc in einem kleinen Ort im Bergischen Land und wenn nachts ein Bauer mit einer kranken Kuh vor der Tür steht, dann hat man drei Sekunden Zeit, eine Entscheidung zu treffen — das habe ich da gelernt. Ich treffe sehr gerne Entscheidungen, wohlwissend, dass ich nicht davon ausgehen kann, dass es immer die richtige ist. Ich habe keinerlei Vorbilder, bis auf Frank Zappa und der hat mal gesagt: ‘Keine Variation, Entscheidungen.’”

Und diese Entscheidungen haben Fortuna Ehrenfeld bis zu Glitzerschwein gebracht, das gerade einmal nach eineinhalb Jahren der letzten Aufnahme Solo I erscheint und somit die achte Platte in nicht einmal einem Jahrzehnt darstellt. Woher kommt diese Effizienz und Produktivität? “Also ich muss dazu sagen”, antwortet Bechler, “dass mir das Gerede von diesen ganzen Marktforschungsleuten auf die Nerven geht. Denn ich zügle mich sowieso schon. Wir bringen nur deshalb nicht mehr Alben heraus, weil immer jemand sagt: ‘Du darfst den Markt nicht überhitzen. Material gäbe es aber tatsächlich… Mir bereitet es wirklich keinerlei Mühe, Lieder zu schreiben. Das ist ein Motor, der läuft und ich hatte noch nie eine Schreibblockade, auch, weil ich keine Angst davor habe. Und wenn eines Tages diese Quelle nicht mehr sprudelt, dann mache ich es auch nicht mehr”, erklärt er uns und fügt hinzu: “Und natürlich sind wir auch ein sehr kleines Team und ich möchte, dass das so bleibt. Die wären natürlich maßlos überfordert.”

So weit so gut, doch was hat es denn nun eigentlich mit dem “Glitzerschwein” auf sich? “Ja, das ist eine ominöse Geschichte... Das Glitzerschwein ist ein nicht materialisiertes Wesen. Es schwebt über uns und es schwingt in uns. Es wacht über uns, dass wir unsere Neugier und Beweglichkeit im Kopf sowie die Achtsamkeit und den Respekt nicht verlieren und uns nie mit dem Zufrieden geben, was wir haben. Ich habe gestern über mich in der MZ gelesen: ‘Da hängt sie nun, die neue Messlatte für die deutsche Popmusik.’ Das ist natürlich ein gefährlicher Satz für mich. Da könnte ich auch sagen: ‘Alles klar, Leute, ich lege mich jetzt mal in den Whirlpool und Ciao.’ Und dazu ist das Glitzerschwein da.”

Das Glitzerschwein ist ein nicht materialisiertes Wesen. Es schwebt über uns und es schwingt in uns.

Die neue Platte lässt nicht nur ein weiteres Mal Martin Bechlers lyrische Fähigkeiten im besten Licht erstrahlen. Zwischen großer Poesie, Dada & Melancholie lässt sich das Album auch genremäßig nicht einer einzigen Kategorie zuordnen (wie übrigens so einiges bei Fortuna Ehrenfeld). Tanzhits und Krawall wie Leck mich am Arsch, amore mio! oder We need to go maraca wechseln sich ab mit tiefgründig-ruhigen Balladen wie der Eröffnungstrack An der Ecke bellt ein Hund oder Strassen lang wie Segeltau. Das alles hat der Sänger natürlich nicht dem Zufall überlassen:

“Ich bin ein tief melancholischer Mensch, aber ich bin nicht verzweifelt oder traurig, im Gegenteil. Ich liebe melancholische Balladen, aber das kann man ja den ganzen Abend niemanden zumuten. Auf der Bühne fängst du irgendwann an zu schwitzen und dann kommt die vierte Ballade und du denkst: ‘Kann ich jetzt auch mal n’ bisschen auf die Kacke hauen?’ Das ist ja im Prinzip ein Entertainment Gedanke — das gilt für unser Publikum, aber auch für uns selbst. Ich habe null Bock in einem weißen Hemd mit einer Westerngitarre und einem Mundharmonika-Gestell den ganzen Abend die Leute mit meinen tief melancholischen und dunklen Ansichten der Welt zu langweilen.”

Fortuna Ehrenfeld
© Christian Ohlig

Und tatsächlich ist dieser Eklektizismus auch das, was Fortuna Ehrenfeld so einzigartig macht. Versucht man die Band mit anderen Musiker und Musikerinnen zu vergleichen, so kommt man sehr schnell an seine Limits. Ein bisschen Element Of Crime, aber viel ironischer, ein bisschen wie Isolation Berlin, aber halt eben weniger Isolation und mehr Köln, ein bisschen Nihilismus à la Helge Schneider oder Funny von Dannen, doch das Ganze in melancholisch. Aber anstatt Fortuna Ehrenfeld einer Schublade zuzuordnen, macht es viel eher Sinn, ihren alleinigen und provozierenden Stellenwert in der deutschen Pop-Landschaft zu unterstreichen. Eine Landschaft, in der es alles andere als einfach ist, sich abseits der tausenden Infos und Eindrücke seinen Platz freizuschaufeln und sich gleichzeitig dabei treu zu bleiben. Doch genau das ist hier der Fall. Wie kommt’s?

“Ich denke, dass ein gestalterisches Element von Fortuna Ehrenfeld immer die Erkenntnis war, dass niemand in diesem Land den Atem anhält, weil wir eine Platte rausbringen. Aber trotzdem war uns recht schnell klar — so nerdy und so independent wir sind — dass wir in der Unterhaltungsbranche arbeiten. Wenn ich mein Publikum nicht unterhalte, wird es mir nicht zuhören. Dann kann ich noch so ernst in meinen Themen sein, ich muss die Leute zwei Stunden auf dem Konzert bei mir halten oder 40 Minuten auf einem Album. Diese Erkenntnis, aber auch die Bescheidenheit und Demut, waren eine unheimliche Triebfeder um frech zu sein und Titel zu vergeben wie “Auf’m Park & ride von Golgatha”, erklärt uns Bechler. “Ich stelle mir immer vor, wenn ich im Plattenladen stehe — digital oder physisch — und über diesen Song stolper, dann denke ich doch erst mal: ‘Wait a minute… Wie bitte?’ Und wenn ich mir den Song dann anhöre und mich NICHT verarscht fühle, weil einfach schöne Musik kommt, dann ist das doch eigentlich ein gutes Angebot nach außen an die Welt.”

Liebe Fortuna Ehrenfelder, mit Glitzerschwein macht ihr uns sicherlich eines der schönsten musikalischen Angebote dieses Jahres!

Das Interview wurde geführt von Lena Germann, 8. September 2023.