“Wenn das Ziel des Punk war, die Hippies loszuwerden, dann ist unseres, dem Grunge ein Ende zu bereiten.” Als Damon Albarn mit diesem Satz 1993 ganz England einen kräftigen Schlag versetzt, nimmt es wieder seinen Platz auf dem musikalischen Spielfeld ein, das von Seattle mit dem Grunge und Nirvana besetzt war. Der britische Pop, der eng mit dem politischen Geschehen verbunden ist, entdeckt das Tageslicht genau zu der Zeit, als Tony Blair und seine New Labour Party die Bühne betreten. Die englische Romantik wird gegenüber der amerikanischen wieder attraktiv, da diese häufig als zu hohl bezeichnet wird. Bühne frei für “Cool Britannia”.

Um die Bedeutung des Britpop in der britischen Geschichte zu festigen, kommt man nicht drumherum, den musikalischen wie auch sozialpolitischen Hintergrund Englands zu Beginn der 1990er Jahre zu betrachten. Während die amerikanische Kultur den Atlantik mit dem Pessimismus des Grunge überquert, die eine Generation in vollster Verzweiflung vergegenwärtigt, unterliegt England Thatchers Konservatismus und öffnet die soziale Schere immer weiter, die vor allem im New Wave, Acid House und in der Madchester-Welle in den Vordergrund gestellt wird. Im Frühjahr 1990 vereinen The Stones Roses über 25.000 Menschen in Spike Island und England hört endlich den Puls seiner Underground-Kultur pochen, der von den gedopten Jugendlichen im Kampf für ihre Freiheit hochgetrieben wird. Diese Welle sollte einen Namen tragen: Britpop. Werfen wir einen Blick auf eine nicht allzu lang andauernde aber starke Strömung, die frühzeitig politisiert und vermarktet wurde und die ohne Vornehmheit Freiheitsgefühle, Zugehörigkeit und Nationalstolz erzeugte, sowie auf Gruppen, die sich zusammen schlossen und sich in Windeseile wieder trennten.

The La’s - The La’s (1990)

Glorreicher Ruhm für die La’s! Zu Beginn der 90s veröffentlicht die Band, die 1983 das Tageslicht der Welt erblickt (und die stetig neu organisiert wird), vor allem dank des Gewinner-Tandems Lee Mavers und John Power ihr gleichnamiges Album. Das erste und einzige. The La’s ist das Ergebnis eines zwei Jahre andauernden Perfektionismus und wird von Steve Lillywhit abgeschlossen, der als letzter auf der Produzenten-LIste des Labels Go!Discs stand, nachdem Lee Mavers mit Größen wie John Leckie oder John Porter, Produzent von The Smiths, zusammengearbeitet hat. The La’s sind nicht einfach nur eine Band, sondern vielmehr ein Konzept das Mavers verfolgt, was einen wahren spirituellen Ertrag mit sich bringt. Der Sänger und Gitarrist missachtet Pop-Stars. Er sucht etwas anderes. Sehr lange. Unendlich. Es sollte der Song There She Goes sein, den Mavers hasst und der ihr größter Erfolg werden sollte. Go!Discs entschied, das Album zu veröffentlichen, trotz des Verschmähens der Gruppe. Und noch ehe der Britpop-Erdrutsch begann, ließ das Quartett aus Liverpool die Swinging Sixties mit einem Rattenschwanz an Merseybeat-Songs wieder aufleben. Akustik-Gitarre (Looking Glass), umhüllt von ausgeliehenem Pop von The Smiths (Way Out): dieses von Mavers wenig geliebte Album tänzelt an der Spitze der Verkaufszahlen. Doch da der Perfektionismus seine Grenzen kennt, sollte Mavers kein zweites Album mehr veröffentlichen und hinterlässt der Nachwelt nur diesen Klassiker des Britpop.

Suede - Suede (1993)

Suede erscheint im Jahr 1993, jugendlich und feurig. Ihren emotionalen Gipfel erreichte die gleichnamige Band bereits im Februar bei den Brit Awards. Brett Anderson, androgyn und sinnlich, performte dort das grandiose Animal Nitrate, eine der drei erschienenen Singles (neben The Drowners und Metal Mickey) die die späteren Albenverkäufe antrieben und die Zündschnur des Britpop zündete. Auch die britische Presse reißt sich um dieses Phänomen. Man muss dazu sagen, dass Suede (den Künstlernamen hatte Anderson aufgrund des schönen Klangs der aneinandergereihten Buchstaben ausgesucht) bereits eine heiße Reputation in der Live-Szene hatten. David Bowie höchstpersönlich, das Idol Andersons, schwärmte von der glühenden Formation aus Haywards Heath, die sich für die neuen The Smiths ausgaben. Zu Freuden Andersons erweist sich die Produktion von Ed Buller als Meisterwerk mit eingängigen Refrains. Das Magazin Select drückt noch einen oben drauf mit einem betitelten Artikel: “Yanks go home”, wobei Brett Anderson vor der Union Jack posierend abgebildet ist. Der Londoner hasst es und hat Angst, seine Karriere in Amerika zu gefährden, die hinter Blur und Oasis gerutscht ist.

Blur - Parklife (1994)

Im April 1994 erreichen Blur, die sich schon seit Leisure (1991) und dem ausgezeichneten Modern Life Is Rubbish (1993), das von der Presse hoch gelobt wurde, voranpirschten, mit Parklife den internationale Export des Britpop. Mit Kritik an der Unhaltbarkeit amerikanischer Musik beschreibt dieses Opus in 16 Titeln das Ende eines seltsamen Jahrhunderts, eines bittersüßen Alltags auf die ganz ironisch, stichelnde, britische Weise. Und dann erst Damon Albarn mit seinem vornehm bürgerlichen Akzent und seiner engelsgleichen Erscheinung... Parklife, das im November 1993 in London aufgenommen wurde, ist wie ein Patchwork aus dem Pop der Beatles, den Kinks und Human League, mit mal angesäuerten (To the End), mal eigenwilligen (Girls & Boys) und schleifenden Melodien, die auf perfekte Weise von Stephen Street gemixt wurden - dem Mann, der hinter The Queen Is Dead oder Meat Is Murder der Smiths steckt. Zum Zeitpunkt de Veröffentlichung bilden Damon Albarn, Graham Coxon (Gitarre), Alex James (Bass) und Dave Rowntree (Schlagzeug) das angesagteste Quartett Englands.

Oasis - Definitely Maybe (1994)

Wir befinden uns immer noch im Jahr 1994. Oasis lässt mit Definitely Maybe, mit den Singles Supersonic, Shakermaker und Live Forever, die Charts explodieren. Beim Independent Label Creation Records unter Alan McGee, das sich vom Shoegaze abwandte, nehmen Oasis zunächst im Valley Monnow Studio auf, dann mit Dave Batchelor, Mark Coyle und Noel Gallagher in Cornwall. Die Aufnahmen wurden anschließend an das Label von Owen Morris weitergereicht, der daraus etwas Großes schaffen sollte: die unzählbaren Schichten von Noels satten Gitarrenklängen, die alle Stimmen überdeckte, entwirrte mit einer einzigartigen Technik, dem “brick walling”, womit er ein Wunder vollbrachte. Er schaffte es, eine allgemein starke Lautstärke beizubehalten, die dem Album seinen Live-Charakter verleiht und dabei seine Klarheit im Klang bewahrt. Definitely Maybe ist wie ein perfekter Reim aus Noels Feder und Gitarre und Liams Gesang: She’s sniffin in her tissue, sellin’ the Big Issue (aus Supersonic). Nach befreienden Oden, deren Riffs sich ohne Komplexe am Pop der Beatles bedienen (Shakermaker, Live Forever) und dem Glam-Rock der 70er von T. Rex (Cigarettes & Alcohol), ohne dabei den energiegeladenen Rock zu vernachlässigen (Bring It On Down), schließt die Gruppe das Album mit Married With Children ab. Und hier geht es nicht um Selbstliebe, sondern lediglich um ein imperiales “Ist-mir-doch-egal.” Als Plebejer aus Manchester und Fußballfans scheinen die Gallaghers wie ein Gegenpol zu den Londonern von Blur zu sein...

Radiohead - The Bends (1995)

“Der ganze Britpop nervte mich. Ich hasste es. Für mich war das wie ein Rückschritt und ich wollte auf keinen Fall Teil davon sein.” Zum Anlass des 20-jährigen Jubiläums von OK Computer, 2017 haben sich Jonny Greenwood und Thom Yorke im Rolling Stone zum Britpop geäußert. Warum sollte man sie also dazu zählen? Wenn man den Britpop also als Reaktion der englischen Szene auf den Zeitgeist der 90s interpretiert, dann muss Radiohead in der Gleichung berücksichtigt werden. Getragen von dem Erfolg von Creep und Pablo Honey (1993) wird das Quintett aus Oxford von der Mediatisierung fast erstickt. Yorke und Greenwood graben im Folk und im Elektro, um sich von der kommerziellen Gitarrenmusik abzuwenden, hin zu einer neuen musikalischen avantgardistischen Sprache. Der experimentelle Pop von Björk (Debut, Post), die elektrischen Gitarren von R.E.M., die Mixe von DJ Krush (Strictly Turntabilized oder Meiso bei Mo’Wax), die Pianos und Schlagzeuge von Miles Davis Bitches Brew oder der Talking Heads stellen elle Quellen der Inspiration dar, die die Konzeption von The Bends nähren. Neun Monate lang sperren sich Radiohead in den Londoner RAK Studios ein, unterstützt von John Leckie, der schon mit den Stone Roses produzierte, um EMI DIE Single nach Creep zu liefern. Unter dem Druck scheinen die Sessions nicht fruchtbar genug zu sein. Greenwood gibt alles, um den guten Sound zu finden, die Gruppe schafft es nicht den Haufen an Songs auszumisten, mit denen er arbeiten soll. Die Aufnahmen fahren also nach einer rettenden Tournee im Manor Studio in Oxford fort und werden von Leckie in den Abbey Road Studios gemixt. Yorke erscheint viel selbstbewusster, seine hohen Töne sind treffsicher, Greenwoods Gitarre schlägt ein bis hin zum astreinen Street Spirit. Während die Helden des Britpop von den 60s inspiriert wurden, war Radiohead dabei, die Zukunft vorzubereiten!

Supergrass - I Should Coco (1995)

“I Should Coco ähnelte nichts, was gerade gang und gäbe war - Oasis klang im Vergleich dazu, als wären sie auf Nitrazepam. “Wir sind schnell auf die Welle des Britpop aufgesprungen”, so der Blickwinkel von Gaz Coombes, heute, der zur Zeit von I Should Coco, dem ersten Album von Supergrass, 19 Jahre alt war. Hinter diesem Cover von etwas fragwürdigem Geschmack versteckt sich eines der brillantesten Alben des Jahrzehnts, das 1 Millionen Mal verkauft wurde - die Hälfte davon in England. Nachdem Parlophone die Single Caught by the Fuzz, die beim Independent-Label Backbeat erschien, entdeckt, hat, schafft das Trio mit Gaz Coombes, Danny Goffey am Schlagzeug und Mick Quinn am Bass dieses Album, das in 40 entdeckungsreichen Minuten Pop, Psychedelic und den Punk der Kinks, Rolling Stones, Jam und Buzzcocks eintütet. Die jugendliche, glühende Frische, die sie damit verbreiten, ist wie das Salz in der Suppe dieses Opus’ für die junge englische Szene, für die Alright als Hymne zählt: We are young, we run green / Keep our teeth nice and clean / See our friends, see the sights / Feel Alright, wiederholt Gaz. Im Gegensatz zur Melancholie, die von Radiohead ausging, gönnt sich Oxford hier ein Verjüngungsbad.

Oasis - (What’s the Story) Morning Glory? (1995)

“Ich hatte mir von meine Manager versprechen lassen, dass er mir einen Rolls schenkt. Ich habe einen Rolls, Liam hat eine Rolex. Es ist super, denn ich kann kein Auto fahren und Liam kann die Uhr nicht lesen.“ Die Gallaghers fahren ihre Höhenflug mit (What’s the Story) Morning Glory? fort, nachdem sie mit Definitely Maybe (Rock’n’roll Star) an der Spitze der Charts standen, die Cover der Magazine schmückten und ihren Status als Rockstar festigten. Alan White vertrat Tony McCaroll am Schlagzeug, Owen Morris war für die Produktion verantwortlich. Trotz einer ernsten Auseinandersetzung zwischen Noel und Liam wird die Aufnahme schnellstens durchgezogen. Dieses zweite Werk reiht, nach dem Opener Hello, Rockhymnen von Noel Gallagher aneinander, die er nachts, mit ein bisschen Pulver in der Nase, zusammentrug… Es tummeln sich dort zukünftige Kulthits wie Wonderwall, Don’t Look Back in Anger, Some Might Say und Champagne Supernova mit dem Solo von Paul Weller. Rock, Schätze des Pop und fein ausgearbeitete Balladen... Noel hatte all seine Kompositionen bis zwei Wochen vor der Session geheimgehalten. Er hat sich selbst übertroffen. Es klingt milder, aber reicher, dieses Piano in Don’t Look Back in Anger, die Streicher in Wonderwall bis zur Harmonica in The Swamp Song. Mit 15 Millionen verkauften Alben - eine Zahl, die McGee schon erahnte - beginnt mit Morning Glory die “Oasismania”, von der sich die Gallaghers niemals erholen werden.

Pulp - Different Class (1995)

1995 ist das Britpop-Jahr schlechthin. Es ist auch das Erscheinungsjahr dieses Different Class und des Hits Common People für das Jarvis Cocker die ungesunde Leidenschaft für die Unterschicht Griechenlands zum Ausdruck bringt. Cocker und Pulp sind allerdings nicht mit dem Britpop geboren, sondern zwanzig Jahre früher. 1978 reihen Jarvis und seine Gruppe in Sheffield zahlreiche Platten ohne Erfolg aneinander, so als hätten sie jedes Mal am Ruhm vorbeigeschossen. Mit His ‘N’ Hers, produziert von Ed Buller (was Cocker gar nicht gefiel), und vor allem aber mit Different Class, ihrem fünften Album, surfen Pulp nun auf einer Welle, die sie weiterträgt. Mit einem scharfen Blick auf die Klassenunterschiede verknetet dieses Album englischen Pop, vielgestaltigen Disco (Disco 2000), synthetische Experimente, die länger als 6 Minuten dauern (F.E.E.L.I.N.G.C.A.L.L.E.D.L.O.V.E) und eleganten Glam à la Bowie oder Roxy Music, zu einem glatten Teig, was als Rezept für den perfekten Britpop niedergeschrieben werden kann. Nachdem Bill Brummond nicht an der Produktion teilnehmen wollte, war es Chris Thomas, der die Wunder vollbrachte. Common People vor allem, bei dem Cocker zunächst nur Entwürfe auf dem kleinen Casio lieferte. Als wahre Outsider, jedoch ganz nah an ihrem Publikum, werden Pulp mit ihrem unangepassten Pop und den rauen Texten voller sexueller Anspielungen zu einer filterlosen Stimme und einer der faszinierendsten Bands dieser seltsamen Epoche.

Suede - Coming Up (1996)

Als Wegbereiter, die den späteren Wettstreit, der von Blur und Oasis dominiert wurde, verloren, taten die Mitglieder von Suede alles dafür, um sich von dieser Britpop-Sphäre fernzuhalten, die sie als zu festgeschrieben empfanden. Brett Anderson ist heute noch davon überzeugt, gegen seinen Willen von dieser Flutwelle mitgerissen worden zu sein. Nach Suede (1993) und Dog Man Star (1994) trat der Gitarrist Bernard Butler aus der Combo, die aus dem Süden Londons stammte, mitten während der Session aus, und zerstörte das brennende Duo, das er mit Brett Anderson bildete. Wie auch immer, der dekadente Dandy strahlt mit Coming Up, einem Hit von 1996, und mit Trash und Beautiful Ones, aber auch mit der sieben Minuten langen Pop-Romanze The Chemistry Between Us, Filmstar oder Lazy. Dieses dritte Album, das zweifelsohne von Bowies Glam Rock der 70er inspiriert wurde, löst sich von der komplexen Düsterheit der Vorgängeralben, um einen Fluss an Riffs und dramatischen Akzenten in der hohen Stimmlage von Anderson abzuleiten. Ein zauberhaftes Album, das mit seinem kultigen Cover, das von Peter Saville stammt - ein Held aus der Kindheit Andersons - schon fast dem Punk gleicht.

The Verve - Urban Hymns (1997)

Bitter Sweet Symphony, die Quintessenz von The Verve? Dieser von den Stones inspirierte Hit hat der Gruppe um Richard Ashcroft nebenbei einen Prozess gegen Allen Klein eingebracht, Gründer des Labels Abkco, das Jagger beherbergte. The Verve hatte die Rechte erworben, The Last Time der Stones zu verwenden (die damit ihrerseits schon die Staples Singers coverten), doch Klein war überzeugt, sie hätten noch tiefer gegraben und so holte er sich die Royalties von Bitter Sweet Symphony zurück. Doch es gibt noch andere gute Titel auf diesem Urban Hymns, das nach dem Erdrutsch des Trip Hop erscheint. Ashcroft und seine Stallburschen aus Wigan, im Norden Englands, zeichnen elegante Orchestrierungen, eine englische Schwermut, rhythmisiert von in Watte gepackten morgendliche Stimmungen (Velvet Morning), die selbst die Drogen nicht versüßen konnten (The Drugs Don’t Work). Zunächst klangen sie nach Shoegaze mit A Storm in Heaven, dann nach Funk mit A Northern Soul… The Verve folgten der Richtung, in die der Wind wehte. Neben dem leichteren Pop von Oasis (Lucky Man, Weeping Willow), und dem spritzigen von Radiohead (Space and Time) behalten The Verve ihr melodisches Erbe bei, das aus hochtrabenden Arrangements besteht (The Rolling People). Urban Hymns, das im Morgengrauen des Britpops erscheint, lässt die Flamme wieder entfachen, kurz bevor sie am ausbrennen ist.

Deutsche Übersetzung: Sandra Dubroca