Seit ihrem Ersten Preis beim Königin-Elisabeth-Wettbewerb 2007, gefolgt von hochgelobten CD-Aufnahmen, zählt Anna Vinnitskaya zu den renommiertesten Pianistinnen der jüngeren Generation. Wir sprachen mit der gebürtigen Russin über ihren pianistischen Werdegang sowie ihre Sicht auf Chopin.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Ihr erstes Chopin-Album aufzunehmen?

Als die Pandemie anfing, hat mich der Label-Direktor Didier Martin gefragt, ob ich Lust hätte, etwas einzuspielen. Von Chopin hatte ich bereits als Kind in Russland viel gespielt. Auf jeden Fall wollte ich die Balladen aufnehmen. Auch dadurch, dass diese zeitlich recht lang sind – die kürzeste dauert zirka zehn Minuten –, hat man Spielraum zu erzählen, bei Nummer zwei wollte ich zum Beispiel den Kontrast zwischen Wiegenlied und plötzlichem Sturm und Drang darstellen. Die Impromptus bieten in ihrer Leichtigkeit eine Art Gegengewicht. Sie scheinen wie in einem Atemzug geschrieben, sind aber wunderbare Stücke.

Versuchen Sie, Ihre Vorstellung von der ersten Ballade in Worte zu fassen…

Diese Ballade erzählt von einem alten Mann, der Schönes erlebt hat, aber dann ist in seinem Leben etwas schief gegangen. Er erinnert sich daran, wie es früher war, und dann plötzlich erlebt er Emotionen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Am Ende kommt es zu einer bitteren Kulmination. Mich inspirieren solche Geschichten oder Bilder, die aber für Außenstehende wahrscheinlich zu persönlich sind.

Im Vergleich zu den elegisch-dramatischen Balladen ist in den Impromptus eher spielerische Eleganz gefragt. Besonders das zweite Impromptu op. 36 ist sehr fantasievoll und frei, was die Form angeht. Die plötzliche Modulation von Fis-Dur zu F-Dur beispielsweise kommt so unerwartet, dass sie fast wie improvisiert erscheint. Bei diesem Impromptu habe ich das Bild eines wunderschönen, fast traumhaften Frühlingsmorgens allein in der Natur vor Augen. Abgesehen davon spiele ich sowohl die Balladen als auch die Impromptus jedes Mal ein bisschen anders. Das ist sehr wichtig, weil es sonst bei Chopin zu akademisch klingt. Von Chopin gibt es maßstabsetzende Aufnahmen. Orientieren Sie sich daran, oder müssen Sie sich eher davon frei machen?

Natürlich habe ich entsprechende Einspielungen alter Meister wie Rubinstein oder Horowitz schon mal gehört. Aber vor einer Aufnahme mache ich das nie, damit ich meine eigenen Ideen entwickelt kann. Der Maßstab in Sachen Chopin ist für mich Alfred Cortot. Deswegen habe ich mich auch dagegen entschieden, die Préludes aufzunehmen, weil die Cortot-Aufnahme für mich das Beste ist, was es gibt, und mir die Aufnahme so präsent ist.

Die Balladen wurden angeregt durch die Litauischen Balladen des polnischen Dichters Adam Mickiewicz, den Chopin sogar in Paris getroffen hat. Haben Sie sich davon inspirieren lassen? Als ich die erste Ballade im Alter von 13 Jahren spielte, las ich tatsächlich etwas von Adam Mickiewicz, aber seitdem nicht mehr. Ich denke, die Musik spricht für sich selbst, und ich habe so viele eigene Vorstellungen im Kopf. Ab und zu hilft es mir aber, in einem Buch mit Briefen von Chopin zu lesen, das ich aus Russland mitgenommen habe. Für mich ist es wichtig zu erfahren, wie Chopin als Mensch war, wie verletzlich und introvertiert. Und er hatte auf jeden Fall auch eine dunkle Seite in seiner Seele. Aber ich erfasse das eher intuitiv und reflektiere nicht darüber.

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