Zehn Perkussion-Werke, die man kennen sollte

Das Schlagzeug – verstanden als Obergriff für sämtliche Schlag- und Perkussionsinstrumente – führte in der Geschichte der europäischen Musik lange Zeit ein ungeliebtes Schattendasein. Traditionell mit den Sphären der Tanz- und Volksmusik in Verbindung stehend, galt seine Verwendung als künstlerisch eher problematisch. Daran konnte die allmähliche Integration in den klassisch-romantischen Orchesterapparat wenig ändern. Auch der berühmte Wums in Haydns Sinfonie mit dem Paukenschlag Nr. 94 G-Dur (1791) war als provokanter Weckruf im Fortissimo immer noch Bestandteil eines Tutti-Akkordes.

Waren die Klänge des Schlagwerks exponiert, dienten sie in der Regel zur Heraufbeschwörung des vermeintlich Fremden wie in der stilisierten “Janitscharenmusik” aus Mozarts Entführung aus dem Serail (1782) oder der Sphäre des Militärischen (bei Beet­hoven ebenso wie bei Mahler). Und auch das berühmteste Ostinato der Musikgeschichte, der Rhythmus der kleinen Trommel in Ravels Bolero (1928), bildete letztlich nur das Gerüst für ein orchestrales Riesencrescendo, zu einer Zeit, als der Rhythmus schon längst begann, sich aus den Schablonen der klassischen Instrumentalmusik zu befreien.

Neben der Emanzipation der Dissonanz gehörte auch die Emanzipation des Rhythmus zum visionären Programm der musikalischen Moderne. Kein Wunder, dass zwei der größten Aufführungsskandale der Musikgeschichte einhergingen mit einem vehementen Einsatz von Selbstklingern: Als Igor Strawinsky mit seinem Sacre du Printemps (1913) einen der ersten großen Publikumsskandale provozierte, hatte ein entfesselter Rhythmusapparat entscheidenden Anteil an der Erschütterung der zwischenmenschlichen Ordnung im bürgerlichen Konzertsaal. Die rhythmische Urgewalt dieser expressionistischen Feier heidnischer Riten wurde von wuchtiger Trommel-Motorik vorangetrieben, die den meisten Ohren ordinär erschien.

13 Jahre später hob George Antheils Ballet Mécanique das Théatre des Champs Elysées mit acht Klavieren, vier Xylophonen, zwei elektrischen Klingeln, zwei Flugzeugpropellern, vier großen Trommeln, Tamtam und Sirenen aus den Angeln.

Die Einbeziehung der ästhetisch undomestizierten Potenziale des Rhythmischen wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von ganz unterschiedlichen Einflusssphären inspiriert: der zunehmenden Begeisterung für den Jazz auch in der sogenannten Kunstmusik, der Begegnung mit außereuropäischen Kunstformen sowie der Faszination für die Maschine – scheinbar widersprüchliche Inspirationsfelder, die die künstlerischen Konventionen aus Klassik und Romantik endgültig aufbrechen sollten. Die stampfenden Geräusch-Rhythmen von Alexander Mossollows Orchesterstück Die Eisengießerei (1926/28), Arthur Honeggers sinfonisches Porträt einer Dampflock Pacific 231 (1923) oder eben Antheils mechanischem Ballett (1924) brachten dabei noch eine andere zukunftsweisende Qualität des Schlagzeugs ins Spiel, die von den italienischen Futuristen zuvor mit ideologischer Verblendung ins Rennen geworfen wurde: das Geräusch.

Edgar Varèse

“Ionisation” (1929–31)

Edgar Varèse fiel die Aufgabe zu, den Schlagzeugapparat endgültig von seiner Rolle als sinfonisches Akzidenz zu befreien. Schon in Amérique (1921) hatte der eigentliche Pionier moderner Schlagzeugmusik das Publikum im Rahmen einer großen romantischen Orchesterbesetzung mit 15 (später 11) Schlagzeugspielern geschockt, die entscheidenden Anteil an der Wirkung massiver Crescendi haben. Mit Ionisation (1929/31) schuf er schließlich das erste reine Schlagzeugstück der Musikgeschichte: 41 Perkussionsinstrumente und zwei Sirenen erteilen dem temperierten Tonsystem eine endgültige Absage und bilden eine komplexe Wirrnis unterschiedlichster Klangfarben und Motivbausteine. Varèse verfolgte dabei die Idee von einer Musik als “Bewegung im Raum”. Seine spezielle Auffassung von Rhythmus beschrieb er so: “Rhythmus wird zu häufig mit Metrik verwechselt. Die Kadenz oder die regelmäßige Aufeinanderfolge von Schlägen und Akzenten hat wenig mit dem Rhythmus einer Komposition zu tun.” Für Frank Zappa war Ionisa­tion nach eigener Aussage die Initial­zündung, Musiker zu werden.

Béla Bartók

Sonate für 2 Klaviere und Schlagzeug (1937)

Der Rhythmus spielte im Schaffen Béla Bartóks von Beginn an eine elementare Rolle. Auch das Klavier betrachtete Bartók dabei als ausgeprochen rhythmische Instanz; das berüchtigte Allegro barbaro (1911) brachte eine bis dato ungehörte klangliche Wucht ins traditionelle Musikinstrument. Das Schlagzeug selbst spielte bei Bartók vor allem in der Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug (1937) eine exponierte Rolle. Bartók schuf dabei ein besetzungstechnisches Novum, setzt die Schlaginstrumente aber keineswegs mit vordergründiger Expressivität ein. Vielmehr ist Perkussion hier wohldosierter Teil einer ausgefeilten strukturellen Komplexität im Dialog mit den Klavieren. Vor allem im zentralen klang­lich überaus interessanten Lento ist das Schlagzeug nicht mehr nur ein verlängerter Arm der rhythmischen Energie der Klaviere, sondern emanzipiert sich zum eigenen Ausdrucksträger und Garant neuartiger Farbmischungen.

John Cage

“First Construction (in metal)” (1939)

Nachdem John Cage als Schüler Schönbergs sich zunächst halbherzig mit der Zwölftontechnik beschäftigt hatte, beschritt er mit Stücken für Schlaginstrumente erste eigene experimentelle Wege. Kurzzeitig unterhielt er mit den “Cage Percussion Players” sogar ein eigenes Laien-Ensemble. Cages wachsende Vorliebe für Geräuschklänge fand hier erste konsequente Umsetzung in Stücken, die zumeist als Auftrag diverser Tanzensembles entstanden. Seine First Construc­tion (in metal) für sechs Schlagzeuger markierte 1939 den Beginn einer ganzen Serie von Schlagzeugstücken und konzentriert sich, abgesehen von einem Klavier, dessen Saiten mit Metallzylindern und Paukenschlägeln traktiert werden, ausschließlich auf Metallklinger (darunter Donnerbleche, Automobilbremstrommeln und acht Ambosse). Was die Rezeption anbelangte, gab sich Cage optimistisch: “Bei Beethoven sind wir vor den Geräuschen des Alltagslebens zeitweilig geschützt oder von ihnen ausgenommen. Im Falle von Schlagzeugmusik aber werden (...) unsere Ohren für seine Schönheiten empfänglich.

Karlheinz Stockhausen

“Zyklus” (1959)

Wie bei so vielen Innovationen in der Geschichte der Avantgarde war Karlheinz Stockhausen auch bei der Emanzipation des Schlagzeugklanges eine treibende Kraft. Seine frühe Schlagzeugmusik bezieht ihren ganz besonderen Reiz aus der Spannung von strenger Konstruktion und “gelenktem Zufall”. Ein Schlüsselwerk ist Zyklus (1959), eines der ersten bedeutenden Stücke für Schlagzeug solo und mittlerweile Pflichtstück für jeden ambitionierten Solisten. Der hochvirtuose perkussive “Rundlauf” kann an jeder beliebigen Stelle der kreisförmigen Partitur begonnen werden, um aus diversen Wahlmöglichkeiten und festen Rahmenbedingungen potenziell immer andere Musik entstehen zu lassen. Später sind Stockhausens faszinierende Mischungen aus Instrumentalklang und Elektronik teilweise auf eine Klangquelle konzentriert: In Mikrophonie (1964) machen sich drei Spieler an einem einzigen Tam-Tam zu schaffen.

Helmut Lachenmann

“Air” (1969)

Was die Entwicklung neuartiger Klangfarben im überlieferten ­Instrumentarium anbelangt, waren die 1970er-Jahre ein Jahrzehnt unermüdlicher musikalischer Experimente. Helmut Lachenmanns Air (1969) bildet in dieser Hinsicht einen ersten kompositorischen Höhepunkt. Tonlose Luft- und Atemgeräusche des Orchesters mischen sich mit Reibe-, Streich- und Schlagartikulationen der Perkussionsinstrumente zum ersten “Schlagzeugkonzert” der Avantgarde. Es zeichnet eine mikroskopisch-ziselierte Geräuschvielfalt innerhalb einer kompromisslos konkreten Klangrealistik aus. Air ist ein Musterbeispiel für Lachenmanns detailversessene “Musique concrète instrumentale”, die die Bedingungen klanglicher Artikulation hörbar und deren Ge­räuschqualitäten zum eigenständigen ästhetischen Erlebnis machen wollte – lange Jahre zur Belustigung der akademisch erstarrten Orchester.

Lachenmann: Lachenmann-Perspektiven 2: Air; Ensemble Modern, Brad Lubman (2018); Breitkopf & Härtel (DVD)
Lachenmann: Lachenmann-Perspektiven 2: Air; Ensemble Modern, Brad Lubman (2018); Breitkopf & Härtel (DVD)

Steve Reich

“Drumming” (1970/71)

Die Begegnung mit afrikanischer Trommelmusik war für Steve Reich ein wesentlicher Impuls für die Weiterentwicklung der “Minimal Music”. Was Reich von Feldstudien in Ghana nach Hause brachte, war die außereuropäische Bestätigung seines Prinzips der “Phasenverschiebung”: Patterns und Pulse werden in feiner Unregelmäßigkeit gegeneinandergesetzt, wodurch in der Wahrnehmung individuelle, “illusorische” rhythmische und melodische Muster entstehen. Reich realisierte dies in Drumming (1970/71) mit Bongos, Marimbas, Glockenspielen sowie obligaten Gesangs- und Pfeiftönen der Spieler, ein 90-minütiges Rhythmus-Zeremoniell. Rhythmische Prozesse, die in einer ganzen Reihe von Perkussionstücken noch radikaler in der Beschränkung auf eine spezifische Klangquelle ausgetestet wurden: In Music For Pieces Of Wood (1973) sind es gegeneinandergeschlagene Holzstäbe (Claves), in Clapping Music (1972) allein klatschende Hände, die für das klangliche Gewebe verantwortlich zeichnen.

Mauricio Kagel

“Zwei-Mann-Orchester” (1971/73)

Mauricio Kagels Zwei-Mann-Orchester (1971/73) ironisierte mit subversivem Witz die Funktion des klassischen Orchesterapparates und setzte sich augenzwinkernd mit der zunehmenden Automatisierung von Kunst und Gesellschaft auseinander. Kein Schlagzeugstück im eigentlichen Sinne, sondern eine von zwei Spielern in Betrieb zu nehmende Apparatur aus mehr als 200 einzelnen Klangobjekten, die mit ihrem Wirrwarr aus Instrumenten, Alltagsgegenständen und Schrottfundstücken, Schnüren, Riemen, Pedalen und Antriebsrädern den Künstler Jean Tinguely vor Neid hätte erblassen lassen. Dass dies eine Auftragskomposition der Donaueschinger Musiktage war, also der traditionellen Brutstätte progressiver Orchesterkomposition, hatte in seiner kompletten Negation des zur Verfügung stehenden Instrumentalapparates auch in Donaueschingen provokante Qualitäten – eine schräg-humorvolle Apotheose von Straßenmusik anstelle orchestraler Klangpracht.

Kagel: Zwei-Mann-Orchester (1973); Wilhelm Bruck, Theodor Ross; RCA (Musik in Deutschland 1950-2000: Visible Music)
Kagel: Zwei-Mann-Orchester (1973); Wilhelm Bruck, Theodor Ross; RCA (Musik in Deutschland 1950-2000: Visible Music)

Wolfgang Rihm

“Tutuguri” (1982)

Wolfgang Rihms Tutuguri, mit vollem Titel “Poème dansé nach dem Gedicht Tutuguri” aus dem Hörspiel “Pour en finir avec le jugement de dieu” von Antonin Artaud für großes Orchester, Schlagzeuger, Chor vom Tonband und Sprecher (1980/82), wurde auch zum reinen Schlagzeugstück für sechs Spieler destilliert. Es erscheint wie ein Manifest von Rihms damaliger Idee eines intellektuell unverstellten, unmittelbar körperlichen Komponierens. Im Bann von Artauds Theatervisionen öffneten sich die Schleusen für eine Musik, die nicht länger als “Arrangement von mehr oder weniger historisch reflektierten Modellen” daherkommen wollte, sondern, so der Komponist, “im Rohzustand, als sie selbst, nackt, als Zustand von Musik”, als ein “‚Triebleben der Klänge.” Der hitzig-extrovertierte Text Artauds wird von Rihm transformiert zu einer fiebrigen Partitur, wo die beteiligten Schlagzeuger ein vorsintflutliches Klang-Beben entfachen.

Iannis Xenakis

“Rebonds” (1985/87)

Physische Unmittelbarkeit und vielschichtiger Raumklang sind der Musik von Iannis Xenakis insgesamt zu eigen, in seinen zahlreichen Schlagzeugstücken kommt dies besonders prägnant zum Ausdruck. Persephassa (1969) verlangt nicht weniger als sechs hexagonal um das Publikum herum platzierte Schlagzeug-Sets, die mit kompromissloser Lautstärke in Aktion treten. Neben den üblichen Fell-, Metall- und Holzinstrumenten verwendet Xenakis auch Sirenen für raumfüllende Glissandowirkungen. Die Überlagerung verschiedener Metren und Geschwindigkeiten vermittels verschiedener Klanggruppen verdichtete Xenakis später in bemerkenswert konzentrierten Solo­stücken wie Psappha (1975) oder den beiden Rebonds (1985/87). Das dominierende Element in Xenakis’ Schlagzeugmusik ist die Trommel, deren Intensität und Wucht bei diesem Klangarchitekten trotz aller mathematisch ausgeklügelten Konstruktion eine archaische, fast rituelle Präsenz entwickelt.

Gérard Grisey

“Le Noir de L’Étoile” für sechs Schlagzeuger (1989/90)

Das aufregendste und raumgreifendste Schlagzeugstück der 1980er-Jahre verdankte sich kosmischer Mitteilungen. Gérard Griseys Le Noir de L’Étoile für sechs Schlagzeuger (1989/90), die in einem fast dunklen Raum kreisförmig um das Publikum verteilt sind, geht zurück auf des Komponisten Begegnung mit dem Astronomen Joe Silk, dem Entdecker des “Vela Pulsar”. Silk identifizierte ein im All aufgezeichnetes akustisches Signal als Pulsieren eines untergegangenen Sterns. Als Vater des französischen Spektralismus übertrug Grisey die magnetischen Wellen in akustische Schwingungen und machte das kosmische Pulsieren zum Auslöser gewaltiger Wellen perkussiver Materie, ein Werden und Vergehen rhythmischer Energie in elementarer Sinnlichkeit. Vielleicht hat kein Komponist vor ihm die Unfassbarkeit des Kosmos so physisch unmittelbar in Klänge geformt.

*Beitrag aus dem Fono Forum. Das monatlich erscheinende Magazin Fono Forum bietet mit seinen Rezensionen, Artikeln und Interviews einen umfassenden Blick über die neuesten Plattenerscheinungen sowie das Musikgeschehen der Genres Klassik und Jazz.